Noch ist es späterer Nachmittag – und doch legt sich bereits Dunkelheit über die Baumwipfel. Es dringt nicht mehr viel Licht durch den wolkenverhangenen Himmel. Dauerregen, knapp zehn Grad zeigt das Thermometer, irgendwo in der Nähe des Gurnigelpasses. Es gibt zweifellos behaglichere Orte, an denen man sich an diesem 1. September aufhalten könnte, und sei es nur in wohliger Nähe eines knisternden Feuers. Rosmarie Böhlen kauert am Waldrand, das Gelände ist steil, unablässig tropft der Regen auf ihre grünen, wasserfesten Kleider. Konzentriert wandert ihr Blick durch die Böschung. Doch nichts regt sich dort.
Wer einen Hirsch erlegen will, der benötigt vor allem eines: viel Ausdauer.
Denn nur, wer geduldig ausharrt, erhält überhaupt erst die Chance, einen Hirsch zu erblicken. «Die Distanz wäre jetzt ideal», sagt Böhlen, während sie das Terrain durch ihr Entfernungsmessgerät betrachtet. Rothirsche dürfen nämlich nur auf eine Distanz von maximal 200 Metern geschossen werden, und zwar nur mit Büchsenpatronen, Schrotmunition ist verboten. Das ist bei Weitem nicht das einzige an der Jagd, was durch den Kanton genauestens reglementiert ist: So dürfen Hirsche nur innerhalb von bestimmten Zeiträumen – aktuell vom 1. bis am 20. September – erlegt werden. Auch deren Anzahl ist festgelegt, je nach Wildraum, in dem gejagt wird. Im Gantrischgebiet sind es vier Hirsche, zwei Männchen und zwei Weibchen. Wer mehr Tiere schiesst oder es ausserhalb der erlaubten Zeit tut, macht sich der Wilderei schuldig.
Es wird kälter. Gut möglich, dass es in der Nacht Schnee geben wird.
Der trommelnde Regen hat etwas Meditatives an sich. Weder das Zwitschern eines Vogels noch das Rauschen des Windes durchdringen das Prasseln.
Wenigstens kann so der Hirsch den Jäger nicht wittern. Ansonsten könnte ein Luftzug in die falsche Richtung schnell die eigene Position verraten. Auch wenn sich heute kein Hirsch zeigen würde – für Rosmarie Böhlen hat es einen ganz eigenen Reiz, auf die Jagd zu gehen: «So nahe wie auf der Jagd ist man der Natur sonst nie. Man erlebt sie hautnah, ist dem Wetter voll und ganz ausgesetzt. Für mich ist das Freiheit.» Kritikern und Gegnern, die das Jagen mit Tötungslust und mangelndem Respekt vor der Natur gleichsetzen, hält sie entgegen: «Das Gegenteil ist der Fall. Dadurch, dass ich mich so bewusst mit den Tieren und der Natur auseinandersetze, wird der Respekt dadurch umso grösser.»
Etwas tiefer im Wald gibt es eine Suhle, die sich durch den Regen in Morast verwandelt hat. Normalerweise kommen Hirsche hierher, um sich darin zu suhlen. Als sie sich über die Mulde beugt, huscht ein Lächeln über Rosmarie Böhlens Gesicht. Der Hufabdruck eines Hirschs. «Der könnte gut zwei Wochen alt sein.» Mehr wird an diesem Tag nicht zu sehen sein.
Wild erfreut sich hierzulande ungebrochener Beliebtheit: So sehr, dass das einheimische Fleisch den Bedarf nicht einmal ansatzweise decken könnte. Über 300 Tonnen Wildfleisch werden aus diesem Grund Jahr für Jahr in die Schweiz importiert, ein Grossteil davon aus Neuseeland, aber auch aus der Tschechischen Republik, Frankreich, Slowenien, Australien und Südafrika. Lediglich 20 Prozent des jährlich in der Schweiz verzehrten Wilds stammen aus einheimischer Produktion. Wild aus der Schweiz, genauer gesagt solches, das wirklich erjagt wurde, kommt kaum je in den Handel, denn zu 90 Prozent wird das Fleisch von den Jägern direkt vermarktet oder es geht in die lokale Gastronomie. Eine Ausnahme bilden dabei regionale Zuchten, beispielsweise beim Damhirsch, wobei die Mehrheit nach wie vor aus Australien und Neuseeland importiert wird. Rehfleisch kommt meist aus Österreich, Tschechien und Ungarn.