Es lohnt sich, eine fremdsprachige Speisekarte lesen zu können. Dies dachte ich mir jedenfalls bereits mit acht Jahren, als meine Eltern nach einem Parisaufenthalt nach Hause kamen. Sie assen in einem Gourmettempel und entschieden sich, schockiert über die horrenden Preise, für das günstigste Fleischgericht «Rognons de veau». «Veau gleich Kalb», dachten sie, und freuten sich auf ein feines Kalbsplätzli. Was ihnen serviert wurde, waren allerdings Kalbsnieren...sicherlich hervorragend zubereitet, für sie jedoch ein Albtraum. Das Gourmetrestaurant jedoch war damals absolut zeitgemäss unterwegs und würde mit diesem Gericht im Jahr 2019 erst recht viele Menschen anlocken, denn aus den früheren «Arme-Leute»-Fleischstücken wie Innereien oder Zunge lassen sich Gerichte zubereiten, die jeden Feinschmecker überzeugen.
Ökologisch ist es jedenfalls nicht, nur die Hinterviertel zu verspeisen. Wem das Thema Nachhaltigkeit am Herzen liegt, kann sich für die vegetarische Ernährung entscheiden, oder wenigstens so Fleisch konsumieren, dass nicht nur Filets, sondern eben alle Bestandteile eines geschlachteten Tiers genutzt werden. Natürlich wird ein Grossteil des weniger zarten Fleisches zu Würsten verarbeitet, doch mehr als einmal pro Woche sollten diese auf Grund der Nitritpökelsalze besser nicht auf dem Tisch stehen. Auch wer Ragout oder Hackfleisch oder etwa eine Kalbsbrust kocht, hilft mit, weniger Schlachtabfälle entstehen zu lassen. Vom Eisen- oder Zinkgehalt her sind solche günstigeren und ökologischeren Schmorgerichte jedenfalls identisch mit einem teureren Entrecôte.
Doch es gibt noch viele andere Organe der Tiere, die ebenfalls gegessen werden können. Wie wäre es mit Hirn, Zunge, Euter, Hoden, Kopf, Öhrli, Herz, Lunge, Leber, Blut, Kutteln oder Schwanz? Was würden Sie probieren, was keinesfalls? Was wir heute als ekelerregend und unappetitlich anschauen, haben wir in unserer Kindheit vorgelebt bekommen. Was bereits bei Grossmutter oder Mutter regelmässig auf dem Tisch stand, erachten wir später als essbar, es sei denn, wir verknüpfen es mit unangenehmen Erinnerungen. Meine Eltern servierten gelegentlich Kalbsleber, die sie mit Genuss assen. Ich mochte zwar den Geruch, konnte mit der speziellen Konsistenz aber überhaupt nichts anfangen. Bei Nieren kamen auch meine Eltern an ihre Grenzen, sind diese Organe doch die Entgiftungsorgane und deshalb in ihren Augen minderwertig. Tatsächlich sollten etwa Schwangere auf den Konsum solcher Innereien verzichten. Leber etwa und daraus hergestellte Produkte wie Foie gras oder Leberpain können grössere Mengen Retinol enthalten (tierisches Vitamin A), welches in grossen Mengen als missbildungsfördernd gilt. Zudem sind diese Lebensmittel oft mit Schwermetallen belastet.
Auch Menschen, die an Gicht leiden, sollten mit Innereien zurückhaltend umgehen. Insbesondere Milken, Nieren und Leber enthalten viele Purine, welche Gichtschübe auslösen könnten. Sie sind allerdings mit einer vegetarischen Ernährung eh besser beraten, da sämtliches Fleisch bei Gicht reduziert werden sollte. Auch andere entzündlich-rheumatische Erkrankungen finden sich deutlich seltener bei Vegetariern als bei Fleischessern. Hingegen können etwa Frauen mit einem Eisenmangel von den sehr eisenreichen Gerichten wie Leber oder Blutwurst sehr wohl profitieren. Auch erinnere ich mich rund um Innereien an meine Studienzeit zurück, als ich die Nährstoffe und ihre besten Quellen auswendig lernen musste. Der «Joker» bei einem Blackout: Hefe oder Leber. Darin sind tatsächlich fast alle Nährstoffe enthalten.
Vielleicht sollte ich sie ja doch mal probieren, die Rognons de veau. Das Rezept im Heft 03|2019 tönt schmackhaft. Wenn ich sie nur nicht kaufen und anfassen müsste. Ich schlafe noch mal darüber...