Bei den Begriffen «Graubünden » und «Naturpark» denken viele wohl gleich an den Nationalpark. Nur: Dass es dort einen Park gibt, der mehr als dreimal so gross ist, 548 Quadratkilometer um genau zu sein, weiss nun wirklich nicht jeder. Die Rede ist vom Parc Ela, im Herzen des Bündnerlands gelegen und seines Zeichens der grösste regionale Naturpark der Schweiz. Hier trifft unberührte Natur auf ursprüngliche Dörfer und ein Unesco-Welterbe.
Schroffes Gebirge, einsame, dunkle Wälder, rauhe Natur: Etwa ein Drittel des Parc Ela besteht aus unberührter Landschaft. Dazu gehören Gipfel wie der Piz Lunghin, der Piz Platta, der über der malerischen Alp Flix thront – mit über 2000 Tier- und Pflanzenarten eine wahre Schatzinsel der Artenvielfalt. Und natürlich ist da noch der Piz Ela zwischen dem Albulatal und dem Oberhalbstein, von dem der Parc Ela seinen Namen hat.
Typische Bündnerhäuser im Dorfkern von Bergün
Die Kulturlandschaft des Parks ist geprägt von historischen Verkehrswegen, mächtigen Burgen und Gemeinden, die ihren ureigenen Charme bewahrt haben. Neun Dörfer im Parc Ela gelten mit ihren intakten historischen Dorfkernen als Ortsbilder von nationaler Bedeutung. Alvaneu, Alvaschein, Bergün, Brienz, Filisur, Latsch, Salouf, Stierva und Stugl. Bergün und Filisur gelten mit ihren typischen Häusern im Engadiner-Baustil als Zeitzeugen der Pässe-Geschichte. Denn mit Julier, Albula und Septimer liegen gleich drei bedeutende Alpenpässe im Parc Ela. Dutzende kleinere Übergänge, je nach Sprachregion Fuorcla (Rätoromanisch) oder Furgga (Walserdeutsch) genannt, verbinden die zahlreichen Täler im Park. In der Passlandschaft von Albula, Julier und Septimer wandert man auf alten Pfaden durch eine einzigartige Natur- und Kulturlandschaft. Über den Julier und Septimer zogen bereits vor 2000 Jahren römische Kaiser, Heere und Händler. Wer sich nur etwas von den Passstrassen entfernt, findet sich sogleich wieder inmitten einer grandiosen Wüste von Stein und Geröll, die in ihrer kargen Schönheit einst nur denen vorbehalten war, welche die mühseligen Strapazen einer Alpenüberquerung auf sich nahmen.
Landwasserviadukt bei Filisur
Doch auch der Siegeszug der modernen Technik hat hier stets Rücksicht auf die Bergwelt genommen: Besonders eindrücklich demonstriert die Rhätische Bahn das harmonische Zusammenspiel von Mensch und Natur. Herausragendes Beispiel hierfür ist das Landwasserviadukt, das grösste und zugleich spektakulärste Bauwerk auf der 63 Kilometer langen Albulastrecke zwischen Thusis und St. Moritz. Die Albula- und Berninalinie der Rhätischen Bahn zählen seit Mitte Juli 2008 zum Unesco-Welterbe und dies erst als dritte Eisenbahnlinie weltweit. Vom Dorf Filisur aus gelangt man über einen Fussweg in einer halben Stunde zu einem schönen Aussichtspunkt, von wo aus das Viadukt bestaunt und fotografiert werden kann.
Wandern auf der Via Sett zwischen Bivio und Septimerpass
Vieles im Parc Ela ist mit der Bahn oder dem Postauto zu erreichen. Doch am ursprünglichsten und wohl auch am schönsten lässt sich das Gebiet auf den gut ausgebauten Wanderwegen erkunden. Sollte sich während des Fussmarschs alsbald ein Hungergefühl einstellen, ist Abhilfe meist nicht fern: Der Parc Ela hat nämlich auch in kulinarischer Hinsicht eine Menge zu bieten, besonders die Naturverbundenheit der Küche sowie die Art und Weise, wie hier regionale Produkte gefördert werden, hat Vorbildcharakter. Wer sich etwa beim Tourismusbüro den sogenannten Genusspass besorgt, kommt in den Genuss einer ganz besonderen Wanderung: Man wandert von der Vorspeise zum Hauptgang und weiter zum Dessert auf dem romanischen Dichterpfad «Veia digl Pader» von Stierva nach Savognin und lernt unterwegs regionale Spezialitäten kennen; mit einmaligem Weitblick ins Surses und das untere Albulatal. Erste Station ist die Ustareia Belavista in Stierva. Obwohl es hier keine feste Speisekarte gibt, weiss ein Grossteil der Gäste schon von Anfang an, weshalb man den Weg in das Reich von Wirtin Celina Sonder-Candreia auf sich genommen hat: Nichts weniger als die besten Capuns von ganz Graubünden soll es in Stierva geben. Capuns, das klingt eigentlich simpel – ein Spätzliteig mit Kräutern, Salsiz oder Bündnerfleisch, in Mangoldblätter verpackt, in Milch und Bouillon gegart und dazu eine ordentliche Portion Bergkäse – doch existieren davon «so viele Rezepte und Varianten wie es Schwiegermütter gibt», versichert uns die Wirtin. Ihr eigenes Rezept will sie natürlich nicht preisgeben, doch so viel sei verraten: Von ihren Capuns kann man kaum genug kriegen. Der cremige Schmelz des Käses, der eine würzige Note beisteuert zu den zarten Wickeln, die dennoch einen wunderbaren Biss haben.
Kurhaus Bergün
Weiter geht es nach Salouf, wo in der Ustareia Alpina eine unglaublich aromatische Bratwurst vom heimischen Schaf serviert wird. In Salouf wohnen auch Marc und Gabriella Sonder, Bio-Bauern, die Teil eines einzigartigen Projekts sind: Bergfruchtsaft aus dem Parc Ela. Bei dem Projekt geht es darum, die traditionellen Obstbaumgärten des Parks besser zu nutzen und die speziellen Geschmacksqualitäten der berggereiften Früchte (diese wachsen teilweise auf knapp 1300 m ü.M.) bekannter zu machen. «Wir wollten ein Produkt herstellen, das hier wächst und dessen Wertschöpfung und Herstellung komplett im Parc Ela stattfindet», sagt Marc Sonder, der letztes Jahr 700 Liter Saft von seinen Äpfeln und Birnen abgefüllt hat. Das Resultat kann sich sehen lassen: 100 Prozent Frucht, keine Zusatzstoffe und volles Fruchtaroma. Erhältlich ist der Saft in ausgewählten Lebensmittelgeschäften des Parks.
Die Wanderung endet in Savognin, das sich auf beiden Seiten des Flusses Julia ausdehnt und mit einer romantischen, aus dem Mittelalter stammenden Brücke verbunden wird. Auf der Terrasse des Restaurants Danilo lässt sich die einzigartige Naturschönheit des Tals bewundern. Der Blick gleitet von rauen Bergketten zu steilen Schluchten und hügeligen Bergwiesen und schliesslich auf den Tisch, wo hausgemachte Joghurtglace mit Rötelizwetschgen den süssen Abschluss bildet.
Wer jedoch das Nonplusultra an Regionalität auf dem Teller geniessen möchte, der kommt am Kurhaus Bergün nicht vorbei. Das malerische Dorf Bergün mit seinen typischen Bündnerhäusern liegt idyllisch auf 1400 m ü.M. am Fusse des Albulapasses und an der UNESCO-Welterbe-Bahnlinie. Wie ein Palast aus einer anderen Zeit thront das Kurhaus, ein atemberaubender Jugendstilbau, über dem Ort. Was Chefkoch Markus Frank in diesem geschichtsträchtigen Ambiente serviert, kann man gut und gerne als kulinarische Quintessenz des Parc Ela bezeichnen. Allein seine «Bergüner Tapas» sind ein wahres Fest, dessen Bestandteile vollends von lokalen Bio-Familienbetrieben stammen: Alpkäse mit Birnbrot und Feigensenf, Randensalat mit Salsizstreifen, Trockenfleischröllchen mit Dörrfrüchten, Gazpacho mit Diaboliniöl, Eiercreme und zu guter Letzt Rindsbällchen vom heimischen Rind. Darauf folgen «Kurhaus-Spaghetti» mit Speck vom Alpschwein aus Alvaneu, Bergüner Bio-Ei und heimischem Salsiz; sowie Rosa Rindsbraten nach alter Bündner Art mit Ei und Kräutern gefüllt, mit Plain in Pigna und Spinat. Markus Frank, der erst seit Mai die Küche des Kurhauses leitet, hat eine klare Philosophie: Eine einfache, schnörkellose Küche mit Produkten in Top-Qualität, wenn immer möglich aus der Region. «Um aus einem guten Produkt das Beste herauszuholen, muss man es respektieren, man muss sorgsam damit umgehen», ist Frank überzeugt. So ist es wenig verwunderlich, dass er ständig auf der Suche nach neuen Produkten ist. Gerade eben hat er eine Schweizer Lachszucht gefunden und für die kommende Wildsaison steht er bereits mit mehreren Jägern in Kontakt. Kompromisslos mit regionalen Produkten zu kochen, ist zurzeit überall in der Gastronomie in Mode. Auf die Frage, ob er da nicht einfach einem kulinarischen Trend folge, antwortet Markus Frank ganz trocken: «Ich habe schon immer so gekocht.» Nahe bei der Natur – im Parc Ela kennt man gar nichts anderes.