Dieser Reisebericht ist auch als PDF «Madrid» und als digitaler Beitrag zum Blättern verfügbar:
Eine Metropole des Prunks und der Macht, aber dennoch sinnlich, lebendig und atemlos – mit einer Gastronomie zwischen Tradition und Avantgarde.
Was bei einer Stadt wie Madrid sofort auffällt, ist ihre schiere Grösse. Kein Wunder, leben in der zweitgrössten Stadt der EU (nach Berlin) beachtliche 3,3 Millionen Einwohner, die Vororte nicht einmal mitgezählt. Einst regierte Spanien von Madrid aus eines der grössten Reiche der Menschheitsgeschichte; heute ist die Stadt «nur» noch der politische, wirtschaftliche und kulturelle Dreh- und Angelpunkt der spanischen Nation. Doch trotz seiner gewaltigen Geschichte ist die Stadt keineswegs eine museal erstarrte Freilichtbühne, sondern eine vibrierende, vor Lebenslust und Sinnlichkeit strotzende Metropole, energiegeladen, ständig im Wandel, eine laute Stadt, die das Öffentliche zelebriert, hier findet das Leben draussen statt, auf den Strassen, den Boulevards, in den Markthallen, den Bodegas und den Tabernas.
Alte Viertel, die immer noch den Geist des 18. Jahrhunderts zu atmen scheinen, reihen sich an repräsentative Monumentalarchitektur, verschwenderisch bourgeoisen und royalen Prunk, schmuddeligen Betonbrutalismus und postmoderne Bauexperimente. Dieser atemberaubende Mix spiegelt sich durchaus auch in der äusserst lebendigen Gastroszene wider, in welcher wirklich alles geboten wird: vom urmadrilenischen «Cocido», einem schweren Eintopf mit Kichererbsen und absurd viel Fleisch, über authentische Tapasbars, wo von der Schnauze bis zum Schwanz jeder Teil des Tiers verarbeitet wird; produktfokussierte Neo-Tapasbars, bis hin zu avantgardistischem Fine Dining, das die Grenzen zwischen Kunst und Kochen spielerisch zum Verschwinden bringt.
Die Plaza Mayor gilt als einer der schönsten Plätze des Landes.
Madrid bietet so viele Highlights, dass man problemlos eine Woche dort verbringen kann. Daher hier eine willkürliche, aber persönliche Auswahl:
1 EINE AUTHENTISCHE TAPAS-TOUR
Machen Sie es wie die Madrileños und ziehen Sie von Kneipe zu Kneipe und von Tapa zu Tapa.
2 ZEIT FÜR DIE KUNST
Tauchen Sie ein in das Triángulo del Arte: Die drei weltberühmten Kunstmuseen, die dieses Dreieck bezeichnet, sind das Museo del Prado, das Museo Reina Sofía und das Museo Thyssen-Bornemisza. Mit etwas Disziplin schaffen Sie alle an einem Tag!
3 MONUMENTALER SPAZIERGANG
Starten Sie beim Königspalast in Richtung Plaza Mayor, mit Abstecher zum Mercado de San Miguel, dann weiter zur Puerta del Sol, über die Gran Vía am Metropolis-Gebäude vorbei zur Plaza de Cibeles, wo man dann bald in den Retiro-Park einbiegt. Mehr Höhepunkte bietet kaum ein Spaziergang!
Zum Beispiel mit Iberia oder Swiss in gut 2,5 Stunden ab Zürich. Leider gibt es im Moment keinen direkten Nachtzug nach Madrid, sodass eine Zugfahrt fast einen ganzen Tag dauert und mit viel Umsteigen verbunden ist.
Für eine Erkundung der nördlichen Stadtteile ist das topmoderne Viersternehotel NH Collection Madrid Eurobuilding (www.nh-hoteles.es) eine exzellente Wahl (zum Hotel gehört auch das Spitzenrestaurant DiverXO). Wer es richtig zentral mag, entscheidet sich für das Viersternehotel Catalonia Atocha (www.cataloniahotels.com/de).
Diese Reise wurde unterstützt durch das spanische Fremdenverkehrsamt und Madrid Fusión.
Lust auf authentisches Essen? Machen Sie es wie die Madrileños und durchstreifen Sie die Stadt – es warten Tapas, Wermut und Sherry am Laufmeter – und am Ende die Mutter aller Eintöpfe.
Madrid hat so einiges durchgemacht. Bis nach dem Bürgerkrieg galt die Stadt als verschlafenes Bürokratennest; erst mit dem Ende der Franco-Diktatur konnte es seine geballte Kraft entfesseln und wurde zu einer richtigen europäischen Metropole. Das lockte auch immer wieder Zuwanderer aus allen Teilen Spaniens und dem restlichen Kontinent an, die der Esskultur ihren Stempel aufgedrückt haben. Die Madrider Küche, wenn es so etwas überhaupt gibt, lebt von ihrer Diversität, einerseits deftig und rustikal in den Tavernen, Kneipen und Bars, wo Basken, Galicier und Andalusier an den Kochtöpfen stehen, andererseits auch raffiniert und gehoben, was an der Küche des Königshofs lag: Der Gegensatz zwischen Volks- und Palastküche hat denn auch den Innereien zu einer wahren Blüte verholfen, denn was man an der königlichen Tafel verschmähte, erhob das einfache Volk zu seiner ganz eigenen Delikatesse. Das merkt man nirgendwo besser, als auf einer Tapas-Tour durch die Strassen von Madrid – aber unbedingt am Abend! Denn wenn die Sonne sinkt über der spanischen Metropole, wandelt sich die laute Hektik des Tages zu einer mitreissend-pulsierenden Energie, die etwas Magisches und Befreiendes hat; die Madrileños sprechen von «movida», der Bewegung, die einen unweigerlich in die Madrider Nacht zieht. Aber nicht vor acht Uhr, vorher tummeln sich nur Touristen, nein, hier drängt man sich leidenschaftlich in die zum Bersten vollen Lokale, auf einen Aperitivo und ein paar Tapas, und zieht dann weiter. Ein guter Start ist die Bar «Casa Amadeo – los Caracoles», eine winzige, stickige, stets gut besuchte Kneipe, berühmt für – wie es der Name schon suggeriert – ihre Hausspezialität, Schnecken in einer unvergleichlichen Brühe: Das verlockende Dunkelrot verrät es gleich, hier ist reichlich Chorizo im Spiel, die Paprikawurst, die dem Sud einen tiefen, fleischigen, würzig-pikanten Geschmack verleiht, den die butterzarten Schnecken regelrecht in sich aufsaugen!
Knoblauchgarnelen in der «Casa del Abuelo»
«Zarajos» in der «Casa Toni»
Schnecken mit Chorizo in der «Casa Amadeo – los Caracoles»
Und wenn jedes einzelne Schneckenhaus geleert ist, kann man einfach nicht anders, als den letzten Rest dieses süffigen Elixiers mit Brot aufzutunken. Raus aus dem Gedränge auf die Strasse, nordwärts zum Mercado de San Miguel, wo Dutzende Stände um die Gunst der Hungrigen buhlen; das moderne Streetfood-Angebot kann man aber getrost links liegen lassen und gerade die «Hora del Vermut» ansteuern, denn hier gibt es das Madrider Kultgetränk schlechthin, Wermut. Einst brachten italienische Einwanderer die bitter-süss-würzige Spezialität nach Spanien, heute kommt keine anständige Taberna mehr ohne aus. Erfrischt und berauscht geht es weiter, vorbei an der «Plaza Mayor», dem vielleicht schönsten Platz des Landes, den die abendliche Beleuchtung in ein geradezu magisches Licht taucht, weiter zur «Puerta del Sol», dem Sonnentor, Zentrum der Stadt, Zentrum des Landes, dem Punkt, wo Kilometer Null des nationalen Strassennetzes liegt. Hinein ins Häusermeer, in die engen alten Gassen bis zur «Casa del Abuelo», weil es hier die besten «Gambas al ajillo», also Knoblauchgarnelen geben soll: Direkt im Tongefäss auf der offenen Flamme beginnen die Gambas mit Olivenöl, Knoblauch, Peperoncini und Petersilie zu blubbern und steigern sich crescendoartig in ein sengend heisses Zischen und Brodeln, ehe sie wild brutzelnd serviert werden.
Viel Fleisch, viel Tradition: der berühmte «Cocido madrileño im «Lhardy».
Zart wie Seide schmelzen die Garnelen beinahe auf der Zunge, flankiert von einer pikanten, aber perfekt ausbalancierten Knoblauchnote; fast wie Butter (die da jedoch nicht drin ist), kurzum: einfach hinreissend! Nur ein paar Meter weiter liegt die bei den Einheimischen sehr beliebte «Casa Toni», eine immer volle Tapasbar, wo man den Wermut direkt aus dem Fass zapft, der perfekte Begleiter zu ein paar knusprigen «Zarajos» (frittierte Lammdärme) und rauchig-zarten «Mollejas» (gebratene Milken mit Zitrone), die nun endgültig Lust auf mehr machen. Und mit mehr ist viel, sehr viel mehr gemeint: Kein Madrid-Besuch, besonders während des Winters, wäre vollständig ohne das typischste aller lokalen Gerichte, den «Cocido madrileño», die Mutter aller Eintöpfe. Kichererbsen, Gemüse und viel Fleisch werden zusammen in einer Brühe geschmort, wärmend, reichhaltig und deftig, mehr ein Menü als ein Gericht. Einen besonders guten «Cocido» gibt es im 1839 eröffneten «Lhardy», das noch immer den höfisch-aristokratischen Geist des 19. Jahrhunderts atmet und mit seinem einzigartig bourgeoisen Interieur die perfekte Kulisse für ein üppiges Mahl bietet. In einem ersten Akt wird die Brühe mit Engelshaar-Nudeln serviert, dann geht es zur Sache: Kichererbsen, Kohl, Kartoffeln und Karotten, Chorizo-Wurst, Blutwurst nach Burgos-Art, Secreto vom Iberico-Schwein, getrüffelte Schweinewurst, iberischer Speck, galicische Rindswurst, galicisches Rindermark, iberischer Schinken, eingelegte Foie aus Ampurdán, Iberico-Rippe und gekochtes Huhn. Ein Fest für Karnivoren. Vielleicht wäre ein Digestif jetzt keine schlechte Idee … wie gut, dass etwa 200 Meter weiter mit «La Venencia» die beste Sherry-Bar der Stadt liegt …
LOS CARACOLES
Allein die namensgebenden Schnecken lohnen den Besuch.
www.caracolesdeamadeo.com
LA CASA DEL ABUELO
Hier gibt es die besten Knoblauchgarnelen überhaupt.
www. lacasadelabuelo.es
LHARDY
Eine der besten Adressen für Cocido madrileño.
www.lhardy.com
LA HORA DEL VERMUT
Riesige Wermutauswahl im Mercado de San Miguel.
www.lahoradelvermut.wordpress.com
CASA TONI
Herrlich authentische Tapasbar, immer gut besucht.
C. de la Cruz, 14, 28012 Madrid
LA VENENCIA
Die wohl beste Sherry-Bar von ganz Madrid.
C. de Echegaray, 7, 28014 Madrid
Herrlich puristisch: galicische Garnelen in der «Tasquita de Enfrente».
Egal, ob Neo-Tapas, innovative Innereiengerichte oder puristische Marktküche: Bei der neuen, unkomplizierten spanischen Küche, wie sie in Madrid gerade sehr beliebt ist, steht ganz klar das Produkt im Vordergrund.
Die Calle Ponzano im angesagten Chamberí-Viertel ist bei Tapas-Liebhabern zu Recht sehr beliebt, denn in dieser Strasse reiht sich ein alteingesessenes Lokal an das nächste. Nur mit dem Haus Nr. 11 scheint da irgendetwas nicht zu stimmen; denn es wirkt wie ein Fremdkörper, so als hätte man eine weisse Baustellenbaracke mitten in die Häuserzeile gequetscht. Drinnen ist es dann noch abgefahrener: weissgekachelte Wände mit Schlachtmessern, von der Decke hängen Haken, das Personal trägt weisse Metzgerschürzen – willkommen im «Sala de Despiece», dem «Zerlege-Raum»! In dieser innovativen Neo-Tapasbar geht es um qualitativ hochwertige Produkte, die einfach, aber kreativ zubereitet werden. Am langen, an eine Metzgereien-Theke erinnernden Tresen wartet in Glasvitrinen der Fang des Tages, also was gerade auf dem Markt erhältlich war, an diesem Abend waren das frische Miesmuscheln, Austern, galicischer Oktopus und dunkelrot leuchtende Carabineros, von denen man sich sofort ein Exemplar sichern sollte, wenn man die Gelegenheit dazu erhält. Die Speisekarte kommt wie eine Bestellliste für einen Lebensmittelgrosshändler daher und listet eine Reihe hervorragender Produkte auf; am besten bestellt man sich einfach nach Lust und Laune durch die Karte. Zwei frische Austern, schön aromatisiert mit eingelegten Schalotten und Sumach; hauchdünn aufgeschnittenes Rindfleisch, das mit einer Paste aus Tomaten und getrüffelten Pilzen bestrichen und zu einem mundgerechten Päckchen gerollt wird; oder eine Scheibe iberischer Pancetta, etwas Rohrzucker drauf sowie ein confiertes Eigelb mit einem Scheibchen Foie gras, kurz mit dem Bunsenbrenner ancaramelisiert und wiederum rollt – ein herrlich schwelgerischer Happen!
So gut wie alles geschieht direkt vor dem Gast. Und dann der langersehnte Carabinero, ganz simpel im Schmetterlingsschnitt auseinandergeklappt und nach der in Madrid sehr beliebten Methode mit einer Hollandaise überbacken: Das zart-süssliche weisse Fleisch mischt sich mit der üppigen Sauce und den intensiven Krustentiersäften aus dem Kopf zu einer mitreissenden Liaison. Nicht weniger grossartig: geräucherter Aal in Apfelsaft und Cidre, intensiv mit dem Bunsenbrenner verknuspert und dann ganz einfach mit Apfel und Foie gras serviert. Oder der «baskische Trüffel», zur Kugel geformte Rindfleischscheiben, eingehüllt in das eigene Fett, direkt neben dem Teller von der Flamme geküsst, sodass alles zerfällt, ehe es mit confiertem Knoblauch und Pfefferschoten in Form von baskischen Tacos verputzt wird. Einziger Wermutstropfen an diesem Abend: Die Kutteln waren leider aus! In Madrid aber kein Problem, denn für solche Ingredienzen reserviert man am besten in der «Tasqueria» von Javi Estévez, der die traditionelle Innereienküche der Stadt auf ein ganz neues Level hebt und sogar Esser entzückt, die damit normalerweise überhaupt nichts anfangen können. Auf ein paar schöne Snacks, geräucherte und getrocknete Rinderzunge mit einem Chip aus frittierter Kabeljau-Haut folgt mit den knusprig ausgebackenen Schweineohren auf einem rauchigen Paprika-Kartoffelpüree gleich ein geschmacksexplosiver und wahrhaftig sauguter Teller!
Gratinierter Carabinero im «Sala de Despiece».
Rinderzunge und frittierte Fischhaut in der «Tasqueria».
Weiter geht es mit Entenherzen an einer dunklen, mit Himbeeren verfeinerten Sauce und schliesslich ganz traditionell mit einem würzigen Kutteleintopf, den man mit einer Pipette individuell nachwürzen bzw. nachschärfen kann: fleischig, sämig, süffig und zart, da bleibt kein Tröpfchen im Töpfchen! Es ist dann allerdings das Dessert, mit dem Chef Javi dem Fass den Boden ausschlägt, denn der zieht seine Linie gnadenlos durch und kredenzt zum Abschluss ein süsses Lammhirn an Himbeersauce, ja, Lammhirn, richtig gelesen! Aber ganz ehrlich: Es schmeckt schlicht grossartig; zart, fluffig und süss, wie ein Flan, der entfernt an ein Griessköpfli erinnert. Wem das dann alles doch zu verspielt und zu verrückt vorkommt, dem sei das «La Tasquita de Enfrente» ans Herz gelegt. Hier ist man sichtlich stolz darauf, ausschliesslich allerfrischeste saisonale Marktprodukte zu servieren, die zu 100% aus Spanien stammen. Bewusst puristisch und zurückhaltend bleibt die Zubereitung – nicht mehr als drei Elemente auf dem Teller, alles erkennbar und mit grösstem Respekt behandelt: Ein Stück Räucheraal auf caramelisierter Birne, russischer Salat mit Forellenkaviar oder galicische Garnelen, komplett roh, lediglich mit etwas Zitronensaft mariniert, aber mehr braucht es gar nicht, denn der intensive Eigengeschmack, süsslich, zart, regelrecht buttrig, würde nur unnötig überdeckt. Ähnlich verhält es sich mit dem gegrillten Babykalmar aus Asturien, der ausser Salz und einer Füllung aus süsslichen Zwiebeln keine weiteren Komponenten nötig hat. Den Hauptgang bildet ein einzelnes Fleischbällchen, aber aus erstklassigem Rind, sodass man es bewusst nur saignant werden lässt, perfekt begleitet von knusprigen Kartoffelwürfelchen und einer Reduktion aus dem berühmten «Cocido madrileño» – typisch Madrid eben.
Weniger ist mehr: gegrillter Babykalmar im «Tasquita de Enfrente».
SALA DE DESPIECE
Kreative Neo-Tapas in origineller Atmosphäre.
www.saladedespiece.com
LA TASQUERIA
Innovativer kann man Innereien nicht zubereiten!
www.latasqueria.com
LA TASQUITA DE ENFRENTE
Puristische Marktküche mit rein spanischen Produkten.
www.latasquitadeenfrente.com
Von japanisch inspirierter Feuerküche bis zu schrill-verrückter Avantgarde: Restaurants wie der «Smoked Room» und «DiverXO» machen Madrid zu einem Ort, wo man wirklich spektakulär essen kann.
Im «Smoked Room» spielen Feuer und Rauch die Hauptrolle.
Omakase – ein Wort mit einem geradezu magischen Klang, zumindest für Gourmets. Gemeint ist eine alte japanische Essenstradition, die sich mit «Ich überlasse es Ihnen» übersetzen lässt; dem Koch vertrauen, ihn einfach machen lassen. Das ist auch das Konzept des «Smoked Room» dem neusten «Baby» des spanischen Kochstars Dani García; und wer dort einen Platz erwischt, darf sich mehr als glücklich schätzen, denn das Lokal umfasst gerade einmal 14 davon. Aber wer dem Koch blind vertrauen soll, weiss einen intimeren, persönlichen Rahmen natürlich zu schätzen. Bereits das Setting ist spektakulär: Am Ende eines futuristisch ausgeleuchteten Gangs öffnet sich eine Schiebetür und man steht mitten in der offenen Küche, wo die Flammen unentwegt lodern. Denn im «Smoked Room» dreht sich alles um Rauch, Glut und Feuer. Gekocht wird teils klassisch, teils japanisch inspiriert, rauchig, aber stets in Balance. Am Bartresen Platz genommen, erlaubt es ein an der Decke angebrachter Spiegel, jeden einzelnen Handgriff in der Küche mitzuverfolgen. Unter der Regie von Chef Massimiliano wird geräuchert, gegrillt, gebraten und abgefackelt, dass es eine wahre Freude ist: Nicht weniger als grandios geht es los mit den rohen, jungen weissen Shrimps aus Motril, die lediglich etwas Beurre noisette und frisch geräucherten Pfeffer zur Unterstützung erhalten; eine Wucht ist auch die japanische Gelbschwanzmakrele, zuerst dry aged und dann geräuchert und mit einer Essenz aus über dem Feuer gerösteten Tomaten und Yuzu verfeinert. Gewöhnungsbedürftig, aber von mächtiger Intensität sind die nur ein paar Sekunden über der Holzkohleglut gegarten Baby-Aale, die dadurch wunderbar bissfest bleiben, grossartig kombiniert mit einer Vin-jaune-Velouté und Haselnüssen. Und nichts gegen trockengereiften Steinbutt, doch die vermeintliche Beilage raubt dem Fisch unweigerlich die Show: die berühmten tränenförmigen jungen Erbsen, eine begehrte Delikatesse, der «Kaviar der Erde», nur ein paar Sekunden vom Feuer geküsst. Dieses unvergleichliche Mundgefühl, wenn sie am Gaumen regelrecht aufplatzen und sich eine betörende Mischung aus Süsse, Salzigkeit und subtilem Rauch fast explosionsartig breitmacht, schlicht, komplex und irrsinnig gut! Diese Tränenerbsen hat auch Dabiz Muñoz in seinem Menü … mit gut 300 anderen Zutaten. Obwohl: Von einem Menü im klassischen Sinn kann man in dessen Restaurant «DiverXO» ohnehin nicht sprechen – eher von einer phantasmagorischen Reise in den kulinarischen Kaninchenbau, eine wilde, bunte, aberwitzige Kakofonie, wie eine Oper, bei der man nicht weiss, welche Instrumente gerade gespielt werden. Dabiz, der Bilderstürmer, der Punk mit Irokesenfrisur, das Enfant terrible und gleichzeitig mit drei Michelin-Sternen der höchstdekorierte Koch der Stadt, ist schrill, respektlos und grenzenlos kreativ – und kocht natürlich genauso. Bereits beim Betreten des Lokals merkt man: Hier ist nichts normal! Bunte, grelle, rotierende Lichter, übergrosse Ameisenfiguren, Personal in zirkusähnlicher Uniform und fliegende Schweine überall komplementieren diese kulinarische Alice-im-Wunderland-Erfahrung.
Steinbutt mit feuergeküssten Erbsen
Baby-Aale im «Smoked Room».
Wie wäre es also mit während einer Woche in Sherry marinierter Taube, geräuchertem Kaviar, Plankton und einem embryonalen Eigelb? Oder einem «Salat, der im Kühlschrank vergessen wurde»: eine herausragende Granita aus leicht würzigem, oxidiertem Salat und Sherry-Essig sowie einer Emulsion aus Romanasalat, Eichblatt und Sauerklee, über einem Zentrum aus Tomaten und Edamame. Oder die «Dampf-Explosion», ein irrsinnig konzentrierter Löffel-Happen, der im Mund ein wahres Umami-Gewitter aus Tintenfisch, Iberico-Schwein, fermentierter Chilipaste, Pfefferminze, Kopffüsser-Nudeln und frittierten Felsenfisch-Flakes auf die Papillen niederprasseln lässt. Das begehrte Kagoshima-Rind würzt Dabiz mit Tamarinden-Adobo und fermentierter Shrimp-Paste und kombiniert es mit einer Scheibe vom koji-gereiften galicischen Rind; dazu eine scharf-saure Rinderessenz, die man direkt aus einem Kuhhorn schlürft, intensiv, überwältigend, umwerfend. Nicht weniger kreativ sind die Desserts: Im Mund aufplatzende Madeira-Spaghetti oder eine Kreation aus schwarzem Knoblauch, Cassis-«Kaugummi» und einer Glace aus Yuzu und Kokosnussasche … dies alles lässt sich unmöglich in eine Schublade stecken, doch ein Essen im «DiverXO» ist ein wilder, experimenteller, manchmal überfordernder, aber – und darauf kommt es letztlich an – enorm schmackhafter und spassiger Trip.
Ob Dessert aus Knoblauch, Cassis und Kokosnussasche oder extrem gereiftes Rind (unten): Die Küche von Dabiz Muñoz (m.) ist grenzenlos kreativ.
Auch in diesem Jahr trafen sich Spitzenköche aus der ganzen Welt an der «Madrid Fusión». Am wichtigsten Gastronomiegipfel der Welt geht es um Wissensaustausch und darum, wie wir in Zukunft kochen werden.
Die Fragen, die man in Madrid zu beantworten versucht, sind relevanter denn je: Wie kann die Zukunft der Gastronomie aussehen? Wie wird sich unser Umgang mit Lebensmitteln verändern? Welche neuen Techniken werden möglicherweise unsere Essgewohnheiten beeinflussen? Denn die Antworten betreffen nicht nur eine kleine elitäre Gruppe von Gastronomen, sondern uns alle. Vieles von dem, was in der Spitzenküche ihren Ursprung hat, wird im Laufe der Jahre zu ordinärer kulinarischer Normalität. Das Themenfeld der diesjährigen Madrid Fusión war wiederum enorm vielfältig: Der Wiener Spitzenkoch Konstantin Filippou, ein Österreicher mit griechischen Wurzeln, sprach nicht über die Zukunft, sondern über die Vergangenheit, über Erinnerungen und Gedächtnis und attestierte der Gastronomie die Kraft, Menschen zu bewegen: «Ohne Erinnerung sind wir nichts, und meine Gerichte wecken Erinnerungen an meine Kindheit und ihre Gerichte, österreichische und griechische».
Der Wiener Sternekoch Konstantin Filippou bei seiner Präsentation.
Die Madrid Fusión ist auch immer eine Bühne für die besten Produkte.
Ein Plädoyer für eine Küche ohne Grenzen, in der sich Geschmäcker und Kulturen vermischen. Diese Grenzenlosigkeit demonstrierten auch Köche, die in enormer Abgeschiedenheit ihre Restaurants betreiben: Poul Andrias Ziska, der im «Koks» auf den Färöer-Inseln und zeitweise in Grönland kocht, Nicolai Tram, ein Däne, der in Schweden mitten im Wald das Feuer-Restaurant Knystaforsen eröffnet hat. Es ging auch um Technik: Die Köche des «Disfrutar» (Barcelona) demonstrierten, wie man «schwarze» Früchte herstellt, indem man sie langsam (stunden-, wochen- und sogar monatelang) ohne Feuer, unter Ausnutzung der Umgebungstemperatur oder mit Regulierung von Druck- und Feuchtigkeit «garen» oder wie man einen Dampfkocher als Oxidationsmaschine nutzen kann. Eines der wichtigsten Themen blieb jedoch die Nachhaltigkeit: Der mit zwei Sternen ausgezeichnete James Knapett (Kitchen Table, London), der 90% der in seiner Küche verwendeten Produkte aus Grossbritannien bezieht, rief dazu auf, noch stärker auf die eigenen Erzeuger und Landwirte zu setzen. Ricard Camarena aus Valencia zeigte eindrücklich, wie man auch vermeintlich wertlose Reste verwerten kann, indem er Orangenschalen zu Fruchtpüree, Brioche-Abschnitte zu einem Brotaufstrich und das Öl eingelegter Sardellen zu einem Würzmittel verarbeitet. Ángel León (Aponiente) überraschte wieder einmal, indem er alle Produkte, die in der Mülltonne seines Restaurants gelandet sind, zu Süssigkeiten verarbeitet, darunter die Haut von Muränen und invasive Algen.
Die Möglichkeiten für Gourmet-Shopping sind in Madrid unermesslich. Daher hier nur eine kleine, subjektive Auswahl:
MERCADO DE LA PAZ
Schöne Markthalle mit vielen kleinen Restaurants.
www.mercadodelapaz.com
MERCADO DE CHAMARTÍN
Einer der besten Märkte für spanische Spitzenprodukte.
www.mercadodechamartin.es
MUSEO DEL JAMON
Das Schinkenparadies ist Geschäft, Bar und Restaurant zugleich.
www.museodeljamon.com
GOURMET EXPERIENCE
Schöne Feinkostabteilung im berühmten Kaufhaus «El Corte Inglés».
www.elcorteingles.es
CARNICO
Eine der Top-Metzgereien für erstklassig gereiftes Rindfleisch.
www.carnicotienda.es
COALLA
Riesiges Delikatessengeschäft mit imposanter Weinabteilung.
www.coallagourmet.com
Unser Reiseredaktor Nicolas Bollinger interessiert sich stets für die kleinen feinen kulturellen Unterschiede, die einem beim Reisen auffallen.
«Normales» Essen?
Lassen Sie mich rekapitulieren: In den paar Tagen, die ich in Madrid verbringen durfte, habe ich unter anderem gegessen: Schafsdärme, Rindermagen, Rinderleber, Kalbsmilken, Schweineohren, Lammhirn, Entenhirn, Entenzunge, Entenherzen, Rinderzunge, Schnecken und Baby-Aale. Ich weiss, was viele jetzt möglicherweise denken: «Kann der nicht einmal etwas Normales essen, etwas, das auch Normalsterblichen schmeckt?» Aber was, wenn ich Ihnen jetzt erzähle, dass «Zarajos» (frittierte Schafsdärme), «Orejas» (Schweineohren) oder «Mollejas» (gebratene Kalbsmilken) auf fast jeder Speisekarte einer «normalen» Tapasbar in Madrid zu finden sind? Dass es eben genau das ist, was die «Normalsterblichen» in Madrid gerne essen? Ich gebe zu, manches davon klingt gewöhnungsbedürftig und sieht auch so aus. Aber es lohnt sich, alles zu probieren, denn in der überwältigenden Mehrheit aller Fälle schmeckt es einfach köstlich! Das erfordert natürlich etwas Mut, eine gewisse kulinarische Aufgeschlossenheit und die Bereitschaft, sich auf Neues einzulassen, das vielleicht auch mal ausserhalb der eigenen Komfortzone liegt. Aber ist das denn letzten Endes nicht der Grund, weshalb wir reisen? Das Streben nach neuen Erfahrungen, auch in kulinarischer Hinsicht? Denn wer sich nur an das heranwagt, was er eh schon kennt, der verpasst so unendlich viel. Also Finger weg von diesen Touristenfallen, die auf grossen Plakaten Paella und Sangria anbieten, gehen Sie lieber in die Tapasbar um die Ecke und bestellen Sie die Hausspezialität und einen Wermut. Sie werden es nicht bereuen!
Daran erkennt man in Madrid Touristenfallen: Paella kommt aus Valencia und hat nichts mit lokaler Küche zu tun; in den meisten Fällen handelt es sich sogar um billige Tiefkühlware.