Dieser Reisebericht ist auch als PDF «Lyon» und als digitaler Beitrag zum Blättern verfügbar:
Die Hochburg der französischen Küche? Obwohl hier manch einer instinktiv an Paris denkt, sehen das in Frankreich viele Gourmets entschieden anders – nein, selbstverständlich ist Lyon gemeint! Was aber macht die Metropole zwischen Saône und Rhône zur kulinarischen Hauptstadt des Landes? Zuerst sicher die einzigartige geografische Lage, denn Lyon liegt schlicht perfekt, um als regelrechter Kreuzungspunkt der besten französischen Delikatessen zu fungieren: Rindfleisch aus dem Charolais, Geflügel aus der Bresse, Käse aus der Auvergne, Fisch aus den Gebirgsseen der Alpen, Obst von den Coteaux du Lyonnais und aus der Drôme und Wildbret aus der Dombes ... hier trifft alles aufeinander. In unmittelbarer Nähe liegen zudem die Weinbaugebiete Bourgogne, Côtes Rôties, Condrieu, Côtes du Rhône ... und natürlich Beaujolais. Von Lyon aus eroberte die «Nouvelle Cuisine» mit ihrer Rückbesinnung auf frische, regionale Zutaten und eine Zubereitungsweise, die den ursprünglichen Geschmack der Produkte bewahrt, die kulinarische Welt. Auch heute noch sind in Lyon die Haute Cuisine und die traditionelle Küche eng miteinander verbunden – das ist den Mères Lyonnaises zu verdanken, die als Köchinnen zuerst im Dienst grosser Familien der Bourgeoisie standen und sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts selbstständig machten. Die berühmteste, die legendäre Mère Brazier hatte dann einen gewissen Paul Bocuse als Schüler. Aber auch der Umstand, dass in den «Bouchons», den traditionellen Restaurants der Stadt, heute auch Kalbsfüsse und Kutteln auf den Teller kommen, ist den ersten «Müttern» zu verdanken. Über 4000 Lokale gibt es heute in Lyon – und ganz egal, ob gehoben-raffiniert oder deftig-rustikal, hier wird garantiert jeder satt und glücklich.
Lyon eignet sich perfekt für einen Wochenendtrip. Zum absoluten Pflichtprogramm gehören unserer Meinung nach:
1 LES HALLES PAUL BOCUSE
Delikatessen bis zum Abwinken: An den Ständen und in den Restaurants dieses Schlaraffenlands findet man wirklich alles, wofür die französische Küche berühmt ist.
2 ESSEN WIE DIE EINHEIMISCHEN
Besuchen Sie unbedingt ein authentisches «Bouchon», denn sie sind der Inbegriff der traditionellen Lyoner Küche: Der Beaujolais fliesst in Strömen, auf den Tisch kommen deftig-raffinierte Klassiker.
3 NOTRE-DAME DE FOURVIÈRE
Die gewaltige Basilika ist schon von Weitem sichtbar und ist ein unbestrittenes Wahrzeichen der Stadt. Wem der Aufstieg zu steil ist, der nimmt einfach die Standseilbahn und geniesst den wohl besten Blick über Lyon.
4 CHARMANTE TRUGBILDER
Typisch Lyon: Überall in der Stadt findet man die bemalten Hauswände; oft sind es riesige Fassaden mit Fresken oder einem Trompe L'Œil, einem täuschend echt wirkenden Bild.
Er ist überall: Paul Bocuse, der vielleicht wichtigste Sohn der Stadt.
Aufwendige Wandgemälde wie hier im Stadtteil Croix-Rousse sind typisch für Lyon.
Lyon ist besonders aus Schweizer Sicht perfekt gelegen: Mit dem Zug ab Zürich in knapp fünf, ab Genf in zwei Stunden zu erreichen; die Autofahrt dauert etwas mehr als fünf, ab Bern etwas mehr als drei Stunden. Trotz internationalem Flughafen wird Lyon aus der Schweiz nicht direkt angeflogen.
Das 4-Sterne-Boutique-Hotel Warwick Reine Astrid liegt versteckt hinter einem von Bäumen gesäumten Boulevard mit dem berühmten Tête d'Or-Park auf der anderen Strassenseite, während die Altstadt mit ihrer aussergewöhnlichen Küche, ihrem aufregenden Nachtleben, ihren Museen, historischen Stätten und Denkmälern nur eine kurze Fahrt vom Hotel entfernt ist. (www.warwickhotels.com/warwickreine-astrid-lyon).
Diese Reise wurde unterstützt durch Atout France und OnlyLyon Tourisme
La Mère Brazier» und Paul Bocuse – es waren legendäre Figuren wie diese, denen Lyon seinen geradezu mythischen Ruf als Kulinarik-Hochburg verdankt. Deren Restaurants sind auch heute noch einen Besuch wert; mit dem gewaltigen Erbe wird indes ganz unterschiedlich umgegangen.
Man könnte meinen, es wäre seine Stadt – und in gewisser Hinsicht ist sie das auch: Strassen, Brücken, Restaurants, selbst eine Markthalle trägt seinen Namen, sein Konterfei ist auf übergrossen Wandgemälden und in Statuen verewigt – Paul Bocuse, die Legende, die Ikone, der berühmteste Koch der Welt, der Inbegriff der französischen Küche. Der Umstand, dass «Monsieur Paul» im Jahr 2018 diese Welt verliess, um seinen Platz im Pantheon der grossen Köche einzunehmen, hat daran freilich wenig geändert, zumindest gilt das für Lyon, wo seine Verehrung nach wie vor grenzenlos ist. Einmal bei Bocuse essen, das gehört auch im Jahr 2023 nach wie vor auf die To-do-Liste vieler Gourmets, denn wo sonst hat man noch die Gelegenheit, diese ultraklassische französische Küche mit ihren ikonischen Gerichten am Ort ihres Entstehens kennenzulernen!? Wer die «Auberge» in Pont du Collonges, etwas ausserhalb der Stadt, ansteuert, merkt schnell, dass dieses Lokal mit einem Wirtshaus kaum etwas zu tun hat, und dass man mit Fug und Recht von einem Tempel, einer Pilgerstätte sprechen kann: hell illuminierte Wände in Rot und Grün und ein gigantischer Schriftzug, ein mit Wandgemälden geschmückter Innenhof, der die grosse Geschichte der französischen Küche verewigt und überall Monsieur Paul, gemalt, gedruckt und in Bronze. Der Hauptspeisesaal ein epochales grossbürgerliches Wohnzimmer, das dank eines riesigen Kamins sehr viel Gemütlichkeit ausstrahlt, darüber ein Gemälde des Chefs, der darüber wacht, dass sein Vermächtnis in Ehren gehalten wird. Gilles Reinhard und Olivier Couvin, die in der Küche den Ton angeben, haben in der Tat ein gewaltiges Erbe zu verwalten, denn allen Bestrebungen einer sanften Erneuerung zum Trotz gilt: Man geht zu Bocuse wegen seiner Klassiker.
Wegen der «Soupe aux truffes noires VGE», die Bocuse im Februar 1975 für ein Bankett kreiert hatte, das Präsident Valéry Giscard d'Estaing im Élysée-Palast zu Ehren seiner Aufnahme in den Rang eines Ritters der Ehrenlegion veranstaltete. So «simpel» wie dekadent: Rinderbrühe mit Rinderwürfeln, Gemüsebrunoise, gewürfelter Foie gras und jeder Menge geraspelter Périgord-Trüffel, alles überbacken mit einer Haube aus Blätterteig. Dem Präsidenten, der sich fragte, wie er seine perfekt versiegelte Trüffelsuppe geniessen solle, antwortet Paul Bocuse ohne den Hauch eines Zögerns: «Cassez la croûte, Monsieur le Président». Mit (fast) diesen Worten wird sie auch heute noch serviert und dieser subtil verführerische Trüffelduft und die heisse Dampfwolke des Wohlgeschmacks, die beim Aufbrechen der Kruste entweichen, sind so verheissungsvoll wie eh und je. Das Geheimnis vieler Bocuse-Gerichte liegt in der Einfachheit: so auch bei der berühmten Rotbarbe mit knusprigen Kartoffelschuppen, einer Rosmarin-Orangen-Buttersauce und etwas Kalbsfond. Aus heutiger Sicht simpel, doch das punktgenaue Zusammentreffen von perfekt glasigem Fisch, üppiger Sauce und dem, was Monsieur Paul als «élément craquant» definierte, ist auch jetzt noch ein perfekt komponierter Akkord.
Eines der wichtigsten Vorbilder und Mentorin war für Paul Bocuse die legendäre «Mère Brazier», die wohl typischste aller «mères lyonnaises»: Mit 19 Jahren begann die Laufbahn von Eugénie Brazier als Köchin bei einer reichen grossbürgerlichen Familie in Lyon und gipfelte darin, dass sie nicht nur als erste Frau drei Michelin-Sterne errang, sondern es als erste Person überhaupt schaffte, drei Sterne gleichzeitig für zwei Restaurants zu halten. Ihr von Legenden umranktes Restaurant «La Mère Brazière» war der Inbegriff der Lyoner Küche, und als es 2007, lange nach ihrem Tod, seine Türen schloss, lag die Stadt in kollektiver Trauer. Als Mathieu Viannay das Lokal Jahre später wieder eröffnete, schaute tout Lyon hin und war begeistert. Viannays Ansatz, mit diesem gewaltigen Erbe umzugehen, erwies sich als anders, als man es heute im Hause Bocuse zu tun pflegt: Nach dem Motto «Nichts hat sich geändert. Alles hat sich geändert» bleibt der Geist der Mère Brazier noch immer lebendig, doch werden ihre Rezepte behutsam neuinterpretiert und in komplexere, subtilere, moderne Geschmacksbilder übersetzt. Etwa «Quenelle de brochet», Hechtnocken mit Krustentiersauce, ein Klassiker der deftigen Lyoner Küche: Viannay macht daraus eine gestockte, locker-luftige Mousse und ummantelt sie mit einer hauchdünnen Brotkruste; dazu eine elegante Version der Sauce Nantua und parallel dazu ein pochiertes Hechtfilet mit Kapern und Zitrone. Leichtfüssig und fantastisch ausbalanciert. Von derselben Eleganz ist auch das auf den Punkt gegarte Fleisch von Seespinne und Taschenkrebs, verborgen unter einer schaumig-anmutigen Emulsion aus den Karkassen, zeitlos vollendet mit einer Nocke OsietraKaviar. Von grosser Klasse zeugt auch der Hauptgang, knusprig gebackenes Ris de veau «à la grenobloise», also mit einer Sauce aus Butter, geschälten Zitronenwürfeln, Kapern und winzigen goldbraunen Croutons, grandios kombiniert mit einem hauchfein gearbeiteten Mille-feuille von Sellerie, Kastanien und Trüffel. Allesamt klassische Gerichte, die in anderen Küchen mächtig, schwer und zuweilen etwas rustikal daherkommen würden, bei der wiederauferstandenen Mère Brazier allerdings mit beeindruckender Präzision und Finesse für Begeisterung sorgen. Klassik 2.0 sozusagen.
RESTAURANT PAUL BOCUSE
Nach wie vor ein Erlebnis, wenn auch kein günstiges Vergnügen.
www.bocuse.fr
LA MÈRE BRAZIER
Ein wirklich gelungener Spagat zwischen klassischer und moderner Küche.
www.lamerebrazier.fr
Haute Cuisine hin oder her, nach wie vor gilt: Wer den Geschmack des «echten» Lyon kennenlernen will, geht in ein Bouchon oder eine Brasserie.
Das «Les Lyonnais» ist eine der besten Adressen für die typischen Lyoner Hechtnocken.
Hochküche vs. Hausmannskost, gekünstelt vs. ehrlich – wenn man es sich einfach machen möchte, ist es einfach, solche Gegensätze zu betonen und diese beiden Küchen gegeneinander auszuspielen. Aber in Lyon funktioniert so etwas nur bedingt, denn hier sind diese beiden Stilrichtungen enger verbandelt als anderswo. Ein Essen bei Bocuse oder Brazier gehört genauso zum authentischen Lyoner Kulinarikerlebnis wie eine Tour durch die Bouchons und Brasserien. Was ist ein Bouchon? Im Idealfall findet man dort die traditionelle, deftig-raffinierte Lyoner Küche, der Beaujolais fliesst in Strömen, es ist laut, gesellig und lustig. Ob die Bezeichnung daher rührt, dass an den Orten, wo es Wein zum Essen gab, früher ein Korken («bouchon») über der Tür hing oder ob der Name von «bouchonner» (mit Stroh abreiben) stammt, weil die Pferde hier trockengerieben wurden, während die Kutscher es sich gutgehen liessen – das lässt sich nicht klar sagen. Aber Vorsicht: Bouchon ist nicht gleich Bouchon. Da der Begriff nicht geschützt ist, trifft man auch immer wieder auf durchtriebene Wirte, die ihre Touristenfalle als Bouchon bezeichnen, um Authentizität vorzugaukeln. Prangt neben der Eingangstür eine Plakette mit der Aufschrift «Les Bouchons Lyonnais» oder «Les Toques Blanches Lyonnaises», kann fast nichts mehr schiefgehen. Besonders Ersteres soll als Gütesiegel für authentische Tradition gelten und höchste Qualität garantieren. Der Präsident dieser Vereinigung, Olivier Canal, geht mit bestem Beispiel voran, sein Bouchon «La Meunière» ist eine rustikale Lyoner Gaststätte wie aus dem Bilderbuch: Eine Institution seit 1921, viel Holz, an den Wänden hängen alte Küchenutensilien, vergilbte Plakate und alte Gemälde, auf der kleinen, oft wechselnden Karte finden sich typische Vertreter echter Hausmannskost.
Das volle Programm beinhaltet etwa der «Lyoner Salatteller» mit geschmorter Schweineschnauze, lokaler Cervelas, Saucisson lyonnais, Kalbsfüssen, Linsen und Kartoffeln – alles andere als ein leichtes Salätchen. Kein Vorbeikommen gibt es am «Tablier de sapeur», die «Feuerwehrmannsschürze», mit der in Weisswein marinierter Rinderpansen gemeint ist, der jedoch wie ein Schnitzel paniert und knusprig ausgebacken wird, sodass auch innereienskeptische Naturen sich damit anfreunden können. Eigentlich wäre man jetzt schon gut gesättigt, doch der Blick auf die schwarze Tafel mit den Tagesempfehlungen zwingt einen förmlich dazu, noch nachzubestellen: Wenn Monsieur Canal heute «Lapin à la moutarde», Kaninchen in Senfsauce, auf der Karte hat, kann man einfach nicht Nein sagen! In jedem Bouchon gibt es mindestens eine Hausspezialität, wegen der alleine sich der Besuch lohnt. Im «Les Lyonnais» – ideal gelegen in der Altstadt «Vieux Lyon», einem wunderschönen Ensemble von Renaissancebauten und engen Gassen, das sogar zum UNESCO-Weltkulturerbe gehört – sollte man unbedingt «Quenelles de brochet» bestellen, fluffig-zarte, beinahe mousse-artige Hechtnocken, vielleicht das Lyoner Gericht schlechthin, welches man im «Les Lyonnais» nicht wie üblich in einer Sauce Nantua, sondern einer noch intensiveren Hummer-Béchamel serviert. Aber vergessen wir nicht das Drumherum: «Als Vorspeise?» Am besten den «Salade Lyonnaise», mit Croutons, einem pochierten Ei und riesigen Speckwürfeln. Und als Dessert? Natürlich ein Stück «Tarte aux pralines», ja diese ikonische Tarte mit den rosafarbenen Zuckermandeln! Nur damit keine Missverständnisse aufkommen: Selbstverständlich findet man in Lyon nicht nur in den Bouchons richtig authentische Kost. So ist ein Besuch in der «Brasserie Georges» nicht nur des Essens wegen ein Erlebnis. Gleich hinter dem Bahnhof Perrache steht diese unvergleichliche Institution; übersehen kann man diesen äusserlich einem antiken Tempel nachempfundenen Koloss sowieso nicht. Obwohl man problemlos telefonisch oder online einen Tisch reservieren kann, bilden sich regelmässig lange Schlangen an der Eingangspforte; kein Problem allerdings, denn im gigantischen 700 Quadratmeter grossen Speisesaal finden gut 500 Gäste Platz. Dafür gibt es rustikale Klassiker, frische Meeresfrüchte, selbst gebrautes Bier und eine Stimmung wie im Hexenkessel. Hier schmeckt der Kalbskopf besonders gut, butterzart und mit einer leicht senfscharfen Sauce Ravigote exzellent abgeschmeckt. Doch auch die urtypische Saucisson mit Pistazien an einer himmlischen Rotwein-Schalotten-Buttersauce und Kartoffelpüree gilt zu Recht als Klassiker des Hauses. Und plötzlich erklingt eine Drehorgel, der ganze Saal singt «Happy Birthday» und donnernder Applaus erfüllt den Raum; bereits zum fünften Mal an diesem Abend. Feiern können sie, les Lyonnais.
LA MEUNIÈRE
Authentischer kann ein Bouchon kaum sein. Kleine Karte plus grossartige Auswahl an Tagesgerichten.
www.lameuniere.fr
LES LYONNAIS
Eine Institution und eine der besten Adressen für «Quenelles de brochet».
www.bouchon-les-lyonnais.com
BRASSERIE GEORGES
Grossartige Stimmung und fantastisches Essen – Erlebnisgastronomie im allerbesten Sinn.
www.brasseriegeorges.com
Nicht selten geht vergessen, dass Lyon auch ein modernes Gesicht hat – das Gesicht einer Stadt im Aufbruch. Das gilt selbstverständlich auch für die Restaurantszene.
Lyon ist eine Stadt mit vielen Gesichtern. Das merkt man besonders bei einem Spaziergang auf der zentralen «Presqu'île», der Halbinsel: Rund um die imposante Place Bellecour, immerhin der drittgrösste Platz des Landes, dominieren grossbürgerliche Eleganz, bourgeoise Stadtpalais mit prächtigen Fassaden und weitläufige Boulevards, doch je eher man südwärts vorstösst, wandelt sich die Architektur. Lange Zeit galt dabei der Bahnhof Perrache als Grenze, nach deren Überschreiten man sich unversehens in einer zwielichtigen, heruntergewirtschafteten und halb verlassenen Industriezone wiederfand. Glücklicherweise gehört das der Vergangenheit an, denn im Rahmen eines gross angelegten, äusserst ambitionierten Stadterneuerungsprojekts, bei dem jede Menge internationaler Architekten beteiligt waren, entstand an der Südspitze der Halbinsel ein hypermodernes Viertel mit Wohnungen, Einkaufszentren, Hotels, Büro- und Gewerbeflächen. Als Höhepunkt dieses Modernisierungsschubs gilt das «Musée des Confluences», ein dekonstruierter Stahl- und Glasbau des renommierten Architekurbüros «Coop Himmelb(l)au», an symbolträchtiger Lage, wo Rhône und Saône zusammenfliessen. Doch auch andere Stadtviertel sind im Wandel begriffen; der Hügel von Croix-Russe, einst ein Industrieviertel, wo die Seidenweber, die «Canuts» wohnten, hat eine ordentliche Dosis Gentrifizierung abbekommen. In dieser äusserst kreativen Ecke mit ihren ikonischen Wandgemälden reihen sich Künstlerateliers, Galerien und Boutiqen aneinander. Und wo sich die Hipster tummeln, sind Restaurants mit bistronomischer Ausrichtung nie fern, was jedoch zu begrüssen ist, da dort sehr oft eine einfache, aber dennoch sehr kreativ-ambitionierte Küche zu äusserst fairen Preisen geboten wird. Ein gutes Beispiel dafür ist das Restaurant «Substrat» in der Rue Pailleron. Zum Aperitif knabbert man Brotcracker mit Miso-Whisky-Dip, knackiges fermentiertes Gemüse sowie hauseigenes Sauerteigbrot mit Lardo; als Hauptgang gibt es gerade Ente aus der Dombes, perfekt gebraten, dazu eine Nocke aus den Innereien, begleitet von Petersilienwurzelpüree und gebratenen Pfifferlingen. Wunderbar unkompliziert, aber dennoch sehr ausbalanciert im Geschmack. Eine aufgeschlossene und kreative Küche auf höchstem Niveau bietet auch das zweifach besternte «Le Neuvième Art». Die Kreationen von Christophe Roure lassen sich indes nur schwer in Schubladen stecken: Die Wurzeln liegen klar in der klassischen Hochküche – der Chef wurde gar als «MOF», also als «Meilleur Ouvrier de France» ausgezeichnet – doch vermischen sich hier moderne puristische Produkteküche mit äusserst präziser Aromatik und betonter Weltoffenheit, die sich vornehmlich in der Verwendung exotischer Früchte und Gewürze äussert. Statt also wie in rein klassisch orientierten Häusern die Foie gras mit eher süsslichen Komponenten zu servieren, greift Roure zu grüner Mango, Kiwisaft und Timutpfeffer und macht die an sich üppige und reichhaltige Hauptkomponente zum Baustein einer komplexen Abfolge aus Süsse, Säure, Cremigkeit und leicht blumiger Schärfe. Äusserst gelungen, aber nicht forciert originell – eine Leichtigkeit, die Freude macht. Eine weitere tolle Kombination: ein Schneckenragout mit fluffigen Kartoffelgnocchi und brauner Butter, aufgelockert durch die würzige Säure einer «Grenobloise».
Von grosser Originalität zeugt denn auch die Zubereitung des Saiblingsfilets aus den Cevennen, welches direkt am Tisch mit heissem Bienenwachs übergossen und so sanft bei 90 Grad gegart wird. Gutunterrichteten Geniessern wird dabei nicht entgangen sein, dass diese Zubereitungsart schon sehr lange von Heinz Reitbauer im Steirereck in Wien zelebriert wird, allerdings erübrigt sich die Diskussion darüber, wer nun zuerst diese Idee hatte, dadurch, dass bei Christophe Roure letztlich ein völlig anderes Gericht herauskommt: Der perfekt gegarte Fisch wird mit einer leicht gesalzenen Zitronenbutter nappiert, fabelhaft ergänzt durch eine wunderbar knusprige Artischocke, welche ihrerseits eine zartbitter-nussige Aromatik beisteuert. Und für einmal gehört auch der Fleischgang zu den Highlights des Menüs: ein makelloses Stück Blackmore-Wagyu mit verführerischer Rauchnote und formvollendeter Kruste (da bei intensiver Hitze über Holzkohle gegrillt) mit etwas gegrilltem Römersalat und in der Salzkruste gegartem Sellerie, einem Spritzer Jus und einer Salatcreme. Mehr nicht. Doch das harmoniert alles derart vorzüglich, dass man ohne falsche Scheu zur Plattitüde greifen darf: Manchmal ist weniger tatsächlich mehr!
LE NEUVIÈME ART
Puristisch-modern und klassisch zugleich: Christophe Roure hat eine ganz eigene kulinarische Handschrift.
www.leneuviemeart.com
SUBSTRAT RESTAURANT
Kreative Bistronomieküche zu sehr fairen Preisen.
www.substrat-restaurant.com
Eine Stadt wie Lyon eignet sich perfekt für Gourmet-Shopping. Daher hier nur eine kleine, subjektive Auswahl:
LES HALLES DE LYON PAUL BOCUSE
Der Gourmet-Himmel: Austern, Meeresfrüchte, Wildbret, Fleisch, Geflügel, Käse, Trüffeln, Brot, Wein, Patisserie, Foie gras, Pasteten, Würste, Gewürze, Tee, Reis, Kaffee…
www.halles-de-lyon-paulbocuse.com
MAISON MALLEVAL
Eine Institution seit 1869. Wein, darunter viele Raritäten, Spirituosen, Wermut, Feinkost wie Kaviar, Foie gras und Gewürze.
www.malleval.com
REYNON
Eine der besten Metzgereien für die berühmten Lyoner Wurstwaren.
www.reynonlyon.com
EN ATTENDANT SEPTEMBRE
Grosse Auswahl an Bio-, biodynamischen und Naturweinen, vor allem aus allen Regionen Frankreichs. Dazu kommen Craftbiere und Spirituosen.
www.enattendantseptembre.com
SÈVE
Hier gibt es nicht nur herausragende Macarons und Schokolade, sondern auch die wohl beste Tarte aux Pralines rouges.
www.chocolatseve.com
NOTIZEN VON UNTERWEGS
Unser Reiseredaktor Nicolas Bollinger interessiert sich stets für die kleinen feinen kulturellen Unterschiede, die einem beim Reisen auffallen.
Essen im Museum?
Wissen Sie, womit ich mich bei Bocuse nie wirklich anfreunden konnte? Es ist dieser grenzenlose Personenkult. Wir wissen natürlich, dass Monsieur Paul schon zu Lebzeiten nicht gerade durch Bescheidenheit zu glänzen wusste, allerdings erkannte er auch früh, wie wichtig ein gutes Marketing ist – und ausserdem: Wenn sich irgendjemand feiern durfte, warum nicht er? Aber heute müsste man das wohl überdenken. Denn beim Besuch in Bocuses Hauptrestaurants wurde ich den Eindruck nie los, mich in einem gigantischen Museum zu befinden, wo man die Exponate ehrfürchtig bestaunt und auf keinen Fall anfassen darf. Ja nichts verändern. Für die Köche ist das einengend: In diesem musealen Rahmen wollen die Gäste keine Neuinterpretationen, sondern die Klassiker. Natürlich isst man da jede Menge kulinarischer Geschichte, und schmecken tut es auch wunderbar, keine Frage, aber vielleicht wird irgendwann mal nicht jeder so bereitwillig für ein Fischfilet mit Kartoffeln und Buttersauce 90 Euro hinblättern, einfach, weil der Name Bocuse draufsteht. Auch Klassiker sind nicht zeitlos: Was einst als revolutionär galt, wird irgendwann gewöhnlich; das sollte man stets bedenken. Sonst wird aus dem Museum irgendwann ein Mausoleum. Es mag eine rein subjektive Vorliebe sein, aber der Ansatz von Mathieu Viannay mit der «Mère Brazier» sagt mir einfach mehr zu: grosse französische Klassik, die jedoch mit sehr finessenreichen, komplexen und damit modernen Geschmacksbildern arbeitet und es dennoch fertigbringt, das eigene historische Erbe nicht zu verraten. Es ist hingegen bezeichnend, dass die «Auberge» kurz nach Bocuses Tod den dritten Michelinstern verlor. Mal sehen, was in ein paar weiteren Jahren noch übrig ist …
Ein Schnappschuss: In Lyon ist Paul Bocuse omnipräsent, wie etwa auf diesem Wandgemälde. Jedoch ist die Legende Bocuse mittlerweile bedeutsamer, als es seine Küche tatsächlich noch ist.