Dieser Reisebericht ist auch als PDF «Paris - Glamour & Gourmandise» und als digitaler Beitrag zum Blättern verfügbar:
Stadt der Liebe, Stadt der Lichter, ein Fest fürs Leben… über Paris wurde schon alles gesagt und nichts davon raubt dieser Stadt ihre Faszination. Denn eigentlich ist Paris keine Stadt, sondern ein lebendiger Mythos, aufgeladen durch unzählige Bilder, Filme, Geschichten, Lieder, Fotografien, Gedichte und Träume – eine gewaltige Projektionsfläche, die immer mal wieder fürchten muss, von den eigenen Klischees überwältigt zu werden (Stichwort: «Emily in Paris»). Das liegt natürlich daran, dass sich in der Metropole an der Seine Geschichte, Macht, Kultur und Kapital auf eine einzigartige Art und Weise ballen, sodass sie tatsächlich eine Stadt der tausend Facetten ist. Paris, das ist der Eiffelturm, die Notre-Dame, die Avenue des Champs Élysées, der Louvre, der Montmartre, die Bohème, Revolution, Mode, Existenzialismus, Proust, Zola, Hugo und Baudelaire und Balzac. Balzac war es übrigens auch, der das kunstvolle Sich-treiben-Lassen zelebrierte, wie man es nur in Paris kann: sich-tragen-Lassen vom Strom der Menschen, Eintauchen in die Menge, Teil der Szenerie werden, «Flanieren ist das Leben». Tatsächlich kann man sich nirgendwo schöner verlieren als in dieser Stadt mit ihren eleganten Boulevards, den weitläufigen Parks, ihren prachtvollen Plätzen und überwältigenden Monumenten.
Denn jedes der 20 Arrondissements hat seine eigene unverwechselbare Atmosphäre, ist ein eigener kleiner Kosmos mit «Hotel de Ville», Markt, Grünanlagen, Bars – und natürlich Restaurants. Davon hat Paris bekanntlich jede Menge, mehr als 15 000 an der Zahl, und von Tokio einmal abgesehen, hat keine Stadt mehr Michelinsterne zu bieten. Jahrhundertelang war der Ruf als gastronomische Hauptstadt der Welt unbestritten – heute keine Selbstverständlichkeit mehr, denn Kopenhagen, London, New York, Bangkok, San Sebastián oder wie bereits erwähnt Tokio sind mittlerweile gleichermassen heisse Anwärter auf diesen Titel. Aber da Konkurrenz bekanntlich das Geschäft belebt, ist Paris nach wie vor eine der spannendsten Städte überhaupt, um gut zu essen. Eine lange Geschichte der kulinarischen Tradition, die Tischkultur und Gastronomie weltweit geprägt hat, wird hier weitererzählt; retrospektiv in den Bistros und Brasserien mit dem Charme der alten Zeit, aber auch innovativ und experimentierfreudig. Paris bleibt überraschend, vielfältig und faszinierend; es lässt niemanden kalt und garantiert niemanden hungrig zurück.
Paris bietet so viele Highlights, dass man problemlos eine Woche dort verbringen kann. Daher hier eine willkürliche, aber persönliche Auswahl:
1 DER BLICK VOM ARC DE TRIOMPHE
Besser als die Sicht vom Eiffelturm, denn hier ist man immer noch mittendrin im städtischen Trubel.
2 GENÜSSLICHES FLANIEREN
Es ist kein Zufall, dass der Begriff des Flaneurs in Paris geprägt wurde, denn kaum eine Stadt lässt sich so gut zu Fuss erkunden: etwa von der Notre-Dame via Pont Neuf dem Louvre entlang, dann durch den Jardin des Tuileries bis zur Place de la Concorde, wo die ChampsÉlysées beginnt ...
3 AB IN DIE BRASSERIE
Egal, ob Lipp, Bofinger oder Mollard: Ein Essen in einer Brasserie ist Pariser Lebensart pur!
Natürlich mit dem TGV! Dank einer Geschwindigkeit von maximal 320 km/h legt der TGV Lyria die 415 km von Basel nach Paris in nur 3 Stunden und 4 Minuten zurück. Und das sechsmal pro Tag! Komfortabler und entspannender geht es eigentlich kaum; wer in der Business 1ère reist, kann sogar ein Gourmetmenü am Platz geniessen.
www.tgv-lyria.com/ch/de
Für einen Städtetrip ist das Dreisternehotel Notre-Dame Saint-Michel (www.hotelnotredameparis.com) einfach perfekt gelegen: Direkt bei der berühmten Kathedrale im Herzen der Stadt; Metro, Bus und Schiff halten quasi vor der Haustür. Die Zimmer sind sauber, gemütlich und rustikal-charmant eingerichtet.
Es gibt Restaurants, die als wahre Pariser Institutionen immer noch den Geist vergange - ner Epochen verkörpern. Nirgendwo sonst wird die Grösse der klassischen französischen Küche besser erfahrbar als hier.
Diese atemberaubende, unvergleichliche Schönheit, diese exzessive Anhäufung von verschnörkeltem Stuck, luxuriöser Farbenpracht, verschwenderischem Gold und riesigen Fresken an der fünf Meter hohen Decke. Die gebündelte Masslosigkeit der Belle Époque begrüsst jeden Reisenden, der bei seiner Ankunft in Paris gleich seinen Hunger stillen möchte: Denn «Le Train Bleu» ist kein Château, sondern das schönste Bahnhofsrestaurant der Welt. «Woanders zahlt man Eintritt, um so etwas zu sehen. (…) Diese Schatz - kammer muss man einfach sehen, wenn man in Paris ist», konstatierte schon der berühmte Gastrokritiker Wolfram Siebeck. Diese Institution am Gare de Lyon ist zweifelsohne ein Aushängeschild der französischen Küche, das mit seinem Prunk und seinem Zeremoniell fasziniert und die Sinne durch seinen Ästhetizismus überrascht.
Eine Pariser Ikone seit 1912: das Restaurant «Benoit».
Im «Benoit» zelebriert man noch die hohe Kunst der Pastete.
Es entführt uns direkt in das goldene Zeitalter, als das Restaurant zum Symbol des Pariser Lebens aufstieg – eine Strahlkraft, die man bis in die Gegenwart noch wahrnehmen kann. Dieser Esprit der Metropole um 1900, als sich alles um Savoir-vivre, Lebenslust und Ausschweifungen drehte, als ein entfesseltes Bürgertum seine neu erlangte Macht in dekadenten Festmählern zur Schau stellte und die Bohème im Absintherausch das Bild einer vor Zügellosigkeit taumelnden Stadt in die Welt hinaustrug. Eine Zeit, in der das Restaurant zum Zeichen einer neuen Öffentlichkeit wurde; die Stadt brauchte Orte, an denen es nur um Wahrnehmung ging, sehen und gesehen werden, denn nur, wer sich zeigt, über den spricht vielleicht tout Paris. «Le Train Bleu» atmet – wenn auch nur ein wenig – immer noch den Geist dieser Epoche. In sattem Goldgelb funkelt der Sauternes im Glas und strahlt mit der goldverzierten Decke um die Wette; der klassische Begleiter zur Mousse aus Taube und Foie gras de canard mit Trauben, Feigen und buttriger Brioche. Noch klassischer: «lièvre à la royale», zart geschmorter, entbeinter und um eine kräftige Farce aus Foie gras und Trüffeln als Ballottine neu zusammengesetzter Wildhase, nappiert mit einer tiefen Sauce aus Wildreduktion, Rotwein und Foie gras, gebunden mit Blut – dekadent und üppig, mehr Oldschool geht einfach nicht. Apropos: Im «Train Bleu» zelebriert man sie noch, die hohe Kunst des Arbeitens direkt am Tisch, sodass das Verkehrsaufkommen im Restaurant doch beträchtlich ist; ein beständiges Hin und Her, und jedes Mal, wenn ein neuer Servicewagen an einen Tisch rollt, mischen sich die Düfte von frisch von der Keule gesäbeltem Gigot d'agneau, à la minute zubereitetem Tartare de boeuf oder den Flammen entrissenen Crêpes Suzette.
Ein anderes Monument der klassischen Pariser Gastronomie ist das «Benoit». Seit über hundert Jahren gilt dort «Chez toi, Benoit, on boit, festoie, en rois» – Bei dir, Benoit, trinkt man, feiert man, wie Könige. Reinstes Bistro in seiner schönsten Form, und um noch einmal Wolfram Siebeck das Wort zu erteilen: «Wenn es ein Bistro-Museum gäbe, man müsste Benoit dort nachbauen, als Beispiel für ein vollendetes Ensemble, für Stilreinheit und auch als Vorbild (…).» Wer die Doppeltür des Restaurants aufstösst, betritt eine intime und warme Gegenwelt – von den Fliesen bis zur Holzvertäfelung, von den roten Samtbänken bis zu den kupferfarbenen Leuchten, von den geätzten Glasscheiben bis zu den Stucksäulen – alles verdichtet sich zu einer gediegen-stilvollen Atmosphäre, die sich seit 1912 kaum merklich verändert hat.
Ein weiterer Blickfang ist der auf dem Buffet prominent in Szene gesetzte Berg bester normannischer Salzbutter, was mit einem kleinen Seitenhieb auf die Kochlegende Fernand Point («Butter, gebt mir Butter, immer nur Butter!») auch unverzüglich klarmacht, was bei «Benoit» auf den Tisch kommt, nämlich Bistroküche in Reinform. Egal ob Foie gras, Schnecken in Knoblauchbutter, Kalbskopf oder Cassoulet, Kelly Jolivet, die junge Küchenchefin, beherrscht sie mit Bravour und fügt die nötige Prise Kreativität hinzu. Aber nicht zu viel, denn auch wenn das «Benoit» mittlerweile zum Imperium von Alain Ducasse gehört und mit einem Michelin-Stern ausgezeichnet ist, pflegt und bewahrt man das gastronomische Erbe dieser Institution mit der allergrössten Sorgfalt. Dazu gehört selbstredend die Kunst der Pastete. Die Pâté en croûte ist ein wahres Meisterwerk, gefüllt mit Kalb, Schwein, Bries, Huhn und Foie gras, verfeinert mit Pistazien, Totentrompeten und Cognac; die Hülle knusprig und leicht, das Innere zart und aromatisch – so geht Perfektion. Schwelgerisch geht es weiter, im glühend heissen Kupferpfännchen wird das berühmte Sauté gourmand serviert, eine unfassbar reichhaltige Melange aus Ris de veau, gebratener Foie gras, Kalbsnieren, Hahnenkämmen und Conchiglioni, alles zusammengehalten von einer getrüffelten Kalbsjus – gleichzeitig luxuriös und rustikal, ein Gericht zum Reinlegen! Doch der eigentliche Geniestreich folgt zum Dessert. Wie in aller Welt soll man sich denn entscheiden zwischen den vielleicht besten Profiteroles der Stadt, die man gleich am Tisch selber in ein warmes Schokoladenbad tauchen kann … und dem geradezu göttlichen Savarin à l'Armagnac, einem fluffig zarten Gebäck, das im Gegensatz zum klassischen Baba tranchiert auf den Teller kommt und erst dann mit dem edlen Brand getränkt und mit einem grandios-opulenten Vanillerahm vollendet wird? Sie kennen die Antwort … wir nehmen natürlich beides!
Das Tranchieren am Tisch gehört im: «Le Train Bleu» selbstverständlich dazu.
Dessertträume: Profiteroles und Savarin à l'Armagnac im «Benoit».
LE TRAIN BLEU
Eindeutig das schönste Bahnhofsrestaurant der Welt.
www.le-train-bleu.com
BENOIT
Das vielleicht pariserischste aller Restaurants serviert französische Klassiker auf höchstem Niveau.
www.benoit-paris.com
In der «Clown Bar» herrscht eine lockere Atmosphäre; das berühmte Hirn in Dashi sollte man sich nicht entgehen lassen.
Herausragende kreative Küche in ungezwungener Umgebung – die in Paris entstandene Bistronomie-Bewegung ist auch heute noch eine enorme Bereicherung für die gastronomische Szene dieser Stadt.
Früher war die Welt der französischen Kulinarik von klaren Gegensätzen bestimmt: Auf der einen Seite stand das «Restaurant gastronomique» als Domäne der Hochküche, auf der anderen Seite das einfache Bistro mit seiner klassischen Hausmannskost. Irgendwann um die Jahrtausendwende formierte sich jedoch eine Bewegung, die zwar das Essen der Fine-Dining-Restaurants schätzte, nicht aber den eher steifen und elitären Rahmen, in dem es serviert wurde. Aus «Gastronomie» und «Bistro» wurde «Bistronomie»; erste Restaurants in Paris begannen damit, die einfachen Gerichte und Zutaten der Bistroküche mit hochstehenden Kochtechniken zuzubereiten, das machte die Haute Cuisine nicht nur zugänglich, sondern auch erschwinglich – quasi eine Demokratisierung der kulinarischen Kultur und eine zeitgemässe Interpretation des Althergebrachten.
Zitrus-Dessert in der «Clown Bar».
Mittlerweile hat die Bistronomie nicht nur ganz Frankreich erobert, auch in den Nachbarländern beginnt das Konzept allmählich Fuss zu fassen. Doch die besten bistronomischen Restaurants gibt es immer noch dort, wo alles seinen Anfang nahm – in Paris. Wo genau? Na, in der Rue Amelot … ok, ein Geheimtipp ist die sich dort befindende «Clown Bar» natürlich längst nicht mehr, aber halt immer noch eine der heissesten Empfehlungen. Das Lokal grenzt an den Cirque d'Hiver, und wie der Name schon sagt, ist das Innere mit Belle-Époque-Kacheln dekoriert, auf denen Clowns abgebildet sind – und wem bei diesem Gedanken (Stephen King lässt grüssen) bereits das Gruseln kommt, wird bei Sota Atsumis Signature Dish gleich aufs Schauerlichste aus der Komfortzone katapultiert. Vielleicht ist das clownesker Schalk, aber der Chef serviert ein wirklich als solches zu erkennendes Kalbshirn in Dashi mit Schnittlauch. Und wer sich traut, den Löffel in das dampfende Oberstübchen zu stecken, wird überrascht durch ein erstaunlich samtiges Mundgefühl, fast wie Chawanmushi, luxuriös cremig, aber nur Sekunden später flutet die Dashi den Gaumen mit einer Umamiwelle, sodass die grauen Zellen im Nu weggelöffelt sind. Dieses Gericht ist keineswegs reine Effekthascherei, sondern eine meisterhafte Verbindung von Alt und Neu – schliesslich war es früher nichts Ungewöhnliches, auch das Hirn zu verwenden. Wesentlich zugänglicher sind Atsumis Kombination von rohen, dünn geschnittenen Jakobsmuscheln mit Butternut-Kürbis und Haselnüssen sowie ein perfekt gebratenes – innen zart und aussen knusprig – mächtiges Stück Ris de veau, simpel aber meisterhaft arrangiert mit Totentrompeten und Pastinakenpüree.
«L' Ami Jean» bietet eine urtypische Bistro-Erfahrung.
Die Schmorgerichte im «L' Ami Jean» sind Comfort-Food allererster Güte.
Nomen est omen: geniales Aal-Gericht im «Eels».
Ähnlich modern, aber nicht ganz so verwegen, kocht Adrien Ferrand, der im aufstrebenden 10. Arrondissement das «Eels» eröffnet hat. Der Verweis auf die namensgebenden Aale kommt von Ferrands Faszination für diese aussergewöhnlichen Meerestiere und der Tatsache, dass das Wort im Englischen so viel einfacher auszusprechen ist als das französische anguille. Auch wenn die Karte im «Eels» häufig wechselt, ist doch ein Gericht immer darauf zu finden: geräucherter Aal, herrlich üppig und fettig, der nicht nur auf die Süsse und Säure von grünem Apfel und Süssholz trifft, sondern auch auf den Crunch gerösteter Haselnüsse – abgerundet mit etwas beurre noisette ist das ein grandioses Gericht. Sehr gut ist auch die grillierte Challans-Ente, die Keule gezupft im Salatblatt, dazu Pflaumencreme, Jus de viande und ein Hauch von Kaffirlimette. Doch letzten Endes geht nichts über diesen Aal!
Wesentlich rustikaler gibt sich das «L 'Ami Jean» in der Rue malar, eine Viertelstunde zu Fuss vom Eiffelturm entfernt: Mit seiner hölzernen Fassade und der eiergelben Markise, den gefliesten Böden, den roten Lederbänken und der mit Marmor verkleideten Bar wirkt das Restaurant wie der Prototyp eines Pariser Bistros. Auch Chefkoch Stéphane Jégo hat sich der Bistronomie verschrieben, doch würzt er seine Klassiker mit einer etwas zurückhaltender dosierten Prise Modernität. Als grossartiger Auftakt erweist sich die Idee, die in Paris so allseits beliebte Foie gras für einmal nicht mit den üblichen süssen Komponenten zu verzuckern, sondern sie in Verbindung mit Räucheraal, geröstetem Grünkohl, Blumenkohl und Forellenkaviar auf ein ganz neues Komplexitätslevel zu hieven. Ein wahres Fest für Karnivoren ist dann der zum Teilen gedachte Hauptgang: Paleron de boeuf, ein Schmorstück, das zuerst confiert, grilliert und in einem fast feierlichen Akt mit Oreganozweigen bedeckt und mit grosser Flamme abgefackelt wird. Dazu ein buttriges Kartoffelpüree und fertig ist eine herzhaft-fleischige, leicht rauchige Umarmung, die jeden noch so garstigen Wintertag erhellt. Das ist Wohlfühlessen im allerbesten Sinne, und wer dem Ganzen die Krone aufsetzen will, beschliesst das Mahl mit dem legendären «Riz au lait de l 'ami Jean», sämig-süss und vanillig, perfekt im Biss, kongenial serviert mit einer Glace caramel au beurre salé und caramelisierten Nüssen – mon dieu, wie eine Reise in die Kindheit!
CLOWN BAR
Kreative Bistronomie-Küche mit tollem Naturwein-Angebot.
www.clown-bar-paris.fr
EELS
Unbedingt den namensgebenden Aal probieren!
www.restaurant-eels.com
L' AMI JEAN
Comfort-Food und Bistroklassiker mit modernem Anstrich.
www.lamijean.fr
Austern, Champagner und Berge von Fleisch: ein kurzer Streifzug durch eine Stadt, die den kulinarischen Rausch nach allen Regeln der Kunst zu zelebrieren weiss.
Paris ist eine Stadt der Sünden. In einer Stadt, die den eigenen Hedonismus, das Überschwängliche, den dekadenten Rausch und die Lust an kulinarischen Obszönitäten derart feiert, lauert die Versuchung überall. Aufbruch in die Pariser Nacht. Von der Île de la Cité, vorbei an der um Wiederauferstehung kämpfenden Notre-Dame, in der Ferne Pont Neuf und überall strahlend illuminierte Prachtsfassaden. Der von der Eiffelturmspitze ausgeworfene Lichtkegel durchschneidet den winterlichen Nachthimmel. Durch die engen Gassen Richtung Boulevard Saint-Germain, und überall locken die Bistros mit ihren gläsernen Vitrinen voller Eis, wo sich die Austern türmen, Schnecken, Jakobsmuscheln, das stechende Rot von Hummerschwänzen und Langusten und das orange leuchtende Innere aufgeschnittener Seeigel ziehen die Blicke auf sich. Das Meer ist weit weg, doch seine Früchte geniessen die Pariser mit der allergrössten Lust.
Wer könnte da Nein zu Monsieur Claudio sagen?
Steak, Frites und Rotwein: Französischer geht es kaum!
So wie man sich in Spanien vor dem Essen auf ein paar Tapas trifft, hält man es in Paris mit den Austern, auf ein Glas Muscadet, Chablis oder Champagner, dazu ein halbes Dutzend mild-nussige Bélons und ein halbes Dutzend von Gillardeau, so unsagbar fleischig und pur, und dann dieses unvergleichliche Aroma von Jod, Algen, Salz und Meer – c'est si délicieux! Beim Odéon in den Untergrund und mit der M1 durch die Eingeweide der Metropole bis zur Bastille, wo unweit dieser symbolträchtigen Stätte eine andere Ikone des Pariser Lebens zu finden ist, die «Brasserie Bofinger». Es stimmt auch heute noch: Ohne den Besuch einer richtigen Brasserie ist jede Reise in diese Stadt unvollständig, denn hier geht es nicht nur um das Essen, man konsumiert die Atmosphäre, die Aura, wird Teil einer Lebenskunst. Der deutsche Spitzenkoch Tim Raue bezeichnete die Brasserie als die mondäne Cousine des Bistros und gleichzeitig frivole Schwester des Restaurants, und er hat damit vollkommen recht. Im Bofinger überspannt eine riesige gläserne, mit verschnörkelten Ornamenten verzierte Kuppel den Raum mit seinen markanten Säulen und wandhohen Spiegeln, die das Licht der Jugendstillampen zurückwerfen auf die eng aneinander stehenden Tische mit ihren schweren weissen Tischdecken, die unter den sich steil auftürmenden Bergen von Meeresfrüchten kaum mehr zur Geltung kommen – ja, die Brasserie ist ein Ort der puren Vergangenheit, wo die Gegenwart nur ein flüchtiger Gast ist. In einem Strahl aus blassem Zitronengelb gleitet der «L'ami des Crustaces» ins Glas, ein elsässer Pinot blanc, der nicht nur mit dem bald servierten Streifzug durch die Meere (Austern, nämlich Spéciales Saint-Vaast La Tatihou und Creuses de Bretagne, rosa Garnelen, Meeres-Mandeln, Venusmuscheln), sondern auch mit der Spezialität des Hauses, Choucroute alsacienne, eine innige Freundschaft pflegt.
BRASSERIE BOFINGER
Legendäre Brasserie, die zum Pariser Lebensgefühl dazugehört.
www.bofingerparis.com
LE BOEUF VOLANT
Wenn es Steak-Frites sein soll, dann in diesem Karnivorentempel!
www.leboeufvolant.fr
Das legendäre Choucroute in der «Brasserie Bofinger».
Vor dem Essen auf ein paar Austern: in Paris immer eine gute Idee.
Mit ein paar gekonnten Handgriffen dirigiert der Kellner ein Rechaud auf den Tisch, entzündet die Flamme und arrangiert darauf eine Servierpfanne mit dampfendem Sauerkraut, gekrönt von einer Schweinshaxe, Boudin blanc, Kümmelwurst, Strassburger Wurst, geräuchertem Schweinebauch- und Nacken sowie Salzkartoffeln. Und ehe man der Versauchung nachgibt und zugreifen möchte, wird diese Erfüllung aller Karnivorenträume noch mit einem prickelnden Schuss Crémant d'Alsace übergossen. Ah, wie das alles erst schmeckt! Nicht einfach nur sauer, sondern würzig nach Wacholder, Pfeffer, Nelken, Lorbeer und einem Hauch Süsse, aber auch rauchig und fleischig. Berge von Fleisch! In Paris und seinen Brasserien feiert man solche kulinarischen Obszönitäten ohne jegliche Scham, das beginnt beim Sauerkraut und endet bei Steak-Frites, dem einzigen Brasserie-Gericht, das vielleicht noch ikonischer ist. Der Philosoph und Literaturtheoretiker Roland Barthes widmete ihm ein eigenes Kapitel in seinen berühmten «Mythen des Alltags» und beschwor dessen archaischen, mythologischen Charakter sowie die symbolische Kraft, die einen geradezu nationalen Glanz ausstrahle. Aller Romantik zum Trotz: In Paris einfach irgendwo ein Beefsteak mit Pommes zu bestellen, ist ein Risiko – zu wahrscheinlich ist es, dass am Ende ein zäher Lappen ohne Geschmack, flankiert von labbrigen, öligen Kartoffelstäbchen wartet. Nein, wer sicher sein will, besucht ein Restaurant à viande wie das «Le Boeuf Volant», immerhin Nummer 37 im aktuellen Ranking der «World's 101 best Steak Restaurants». Im selbstdeklarierten «Mikro-Steakhouse» mit nur einem guten Dutzend dicht bestuhlter Tische setzt man auf Klasse statt Masse: Während Jonathan am Grill steht, ist der winzige, aber gemütliche, an eine Metzgerei erinnernde Gastraum das Reich von Claudio. Gleich beim Eintreten sticht der Tresen ins Auge, wo die Weine des Tages, eine gewaltige Rinderrippe mit fantastischer Marmorierung sowie ein betörend aussehendes Stück Blauschimmelkäse unter einer Glasglocke den Gast bezirzen. Und wenn Claudio in seiner unvergleichlich charmanten Art ein Black-Angus-Côte de bœuf der Extraklasse am Tisch präsentiert, wird es gänzlich unmöglich, noch Nein zu sagen. Genauso wenig wie zu ein paar hauchdünn gehobelten Tranchen vom Wagyu-Trockenfleisch … dunkelrot und von feinsten Fettäderchen durchzogen … und bereits dieser intensive nussige Duft, der am Gaumen in einer wahren Explosion detoniert – mürbe, reif, pilzig, umami, vollmundig-reif und erdig, schmelzend – ein geradezu sinnlicher Akt! Bereits naht das Steak, perfekt saignant und kaum weniger geschmacksexplosiv, dazu handgeschnittene Pommes frites, heiss, knusprig und salzig, der Bordeaux tanzt im Glas … was braucht man da noch mehr?! Ach ja, da wäre immer noch dieser entzückende Blauschimmelkäse …
Im Restaurant A.T. zieht der französisch-japanische Chefkoch Atsushi Tanaka das Pariser Publikum mit einer innovativen und zutiefst ästhetischen Küche in seinen Bann.
Atsushi Tanaka kocht nicht japanisch. Auch nicht nordisch, spanisch – und schon gar nicht pariserisch. Und trotzdem könnte sein Restaurant A.T. nicht besser hierher passen, in diese Stadt, die besonders japanische Köche magisch anzuziehen scheint. Hier fällt dieses spannende Nebeneinander von französischem Klassizismus, spanischer Avantgarde, japanischem Purismus und New-Nordic-Radikalität auf fruchtbaren Boden; Stationen bei Grössen wie Pierre Gagnaire, Quique Dacosta, Sergio Herman, Rasmus Kofoed und Björn Frantzén haben Tanakas kulinarische Identität mitgeformt, doch letztlich bleibt diese auf eine wunderbare Art geheimnisvoll – genauso wie seine Küche, die virtuos mit den unterschiedlichsten Techniken und Texturen spielt: über Heu geräuchertes Rindertatar, gewürzt mit Topinamburreduktion, serviert in einer Holzkohletartelette.
Ein knuspriges Törtchen aus Sellerieteig, gefüllt mit geriebenem Meerrettich, Lachskaviar und Holunderblütengelee. Eine ausgelöste Gillardeau-Auster versteckt unter einer Sauerampfer-Liebstöckel-Granité und Kohlrabipüree. Gezupftes Seespinnenfleisch, aufgegossen mit einer vor umami strotzenden Seespinnenbisque, ein spannender Kontrast zum süsssäuerlichen Aroma gepickelter Karotten. Und immer wieder diese bildschönen Variationen von Texturen und Interpretationen derselben Zutat innerhalb eines Gerichts – man denke nur an die Kombination von Rande und Timutpfeffer oder das berühmte Signature-Gericht «Camouflage», bei dem ein Saiblingsfilet unter «Scherben» von Petersilie und Wacholder begraben wird. Ein makelloser Kaisergranat mit Kerbelrübe und Feigenöl, serviert in einer Blumenwiese … elegant, reduziert, puristisch und von einer anmutigen Ästhetik – Essen wie Poesie.
RESTAURANT A.T.
Innovative und enorm ästhetische Kochkunst auf höchstem Niveau.
www.atsushitanaka.com
Obwohl Paris nicht gerade berühmt ist für seine Cocktailbars, hat sich in den letzten Jahren eine enorm spannende Barszene entwickelt – von ultraklassisch über trashig bis experimentell ist wirklich alles dabei.
Eine Bar-Tour durch Paris beginnt am besten dort, wo es am angesagtesten ist, nämlich im Marais, wo alles hip, stylish und trendy ist. Klingt nach Hipster-Klischee, stimmt teilweise auch. Die Ästhetik der «Bisou»-Bar kommt dem mit extravaganten Blumenarrangements, rosa Neonlichtern und flippigen Tapeten schon ziemlich nahe, doch das Lokal hebt sich durch sein einzigartiges Konzept von den vielen anderen coolen Pariser Läden ab. Hier kann man weder reservieren, noch gibt es eine Getränkekarte; denn die Barkeeper kreieren massgeschneiderte Cocktails, die auf den persönlichen Geschmack abgestimmt sind. Nach ein paar Fragen (Welche Spirituosen mögen Sie oder mögen Sie sie nicht? Fruchtig oder blumig? Rauchig oder bitter? Süss? Prickelnd?) erhält man einen geheimnisvollen Drink, dessen Bestandteile man erst nach der Degustation erfährt. Bleiben wir deshalb beim Geheimnisvollen – Speakeasy-Liebhaber wissen es: Im Marais gibt es viele versteckte Bars. Wer also das «Liquorium» sucht und ratlos vor der Bierkneipe «The Drink Doctor» steht, sollte ruhig reingehen und einen Blick in den Keller werfen, wo in einem herrlich schrägen Kuriositätenkabinett der Doktor seinen mixologischen Experimenten nachgeht: Wie wäre es also mit einer «Aphro-Therapie» (Gin, Holunderblütenlikör, Zitronengras, Kardamom, Eisenkraut, Soda, Tonic, Eiweiss)? Für die nächste Flüsterkneipe geht es weiter ins Quartier Latin, wo sich hinter einer anonymen Fassade der «Castor Club» versteckt: Eine unmarkierte Tür führt in eine intime kleine Bar, die so aussieht, als hätte David Lynch einen Gentlemen's Club entworfen. könnte. Die Cocktails zeichnen sich durch originelle Aromen, subtile Gewürze und frische Zutaten aus und versprühen diesen wunderbar verruchten Prohibitions-Charme, etwa die «Hello Granny Mama» mit Champagne brut, Eau de vie de poire, Maraschino, Absinthe, Selleriesirup und Zitrone; oder der «Corazon de Alcachofa» mit Mezcal, Cynar, Wermut, Chartreuse jaune und Pedro-Ximenez-Sherry. Ja, und irgendwann landet man unweigerlich bei «Harry's», diesem legendären Pariser Wahrzeichen, wo angeblich Ernest Hemingway und F. Scott Fitzgerald der dort erfundenen Bloody Marry fröhnten, das ultimative Ziel für Heimweh-Amerikaner und alle, die es werden wollen. In «Harry's New York Bar» scheint die Zeit seit den 1930ern stillzustehen, ein herrlich lasterhaftes Verbindungshaus mit Collegewappen und -wimpeln an den Wänden, wo der Scotch und die Dry Martinis in Strömen fliessen und wenn nach 10 Uhr abends der Piano-Man in die Tasten haut, gibt es kein Halten mehr. Letzte Eskalationsstufe: Auf nach Pigalle! Im Rotlichtviertel, unweit des «Moulin Rouge» wartet das «Dirty Dick» … aber keine Panik, das einzig Phallische dort sind die polynesischen Totems, die überall in diesem ehemaligen Etablissement, das in eine Tiki-Bar umgewandelt wurde, aufgestellt sind. Im «Dirty Dick» ist es düster, schwummrig und kitschig bis zum Exzess, die Drinks sind nicht weniger rumreich und der Höhepunkt ist erreicht, wenn die Barkeeper riesige Punches und Cocktails in einer grossen Muschel oder in einem brennenden Vulkan servieren.
HARRY ' S NEW YORK BAR
Die legendärste Bar der Stadt.
www.harrysbar.fr
DIRTY DICK
Herrlich trashige Tiki-Bar.
www.facebook.com/dirtydickparis
BISOU
Hier gibt es massgeschneiderte Cocktails.
www.bar-bisou.fr
CASTOR CLUB
Kleine intime Bar mit kreativen Drinks.
__Adresse: 14 Rue Hautefeuille, 75006 Paris __
LIQUORIUM
Geheimes Mixologie-Labor im Keller des «Drink Doctor».
www.liquorium.fr
Wer Paris mit ein paar kulinarischen Souvenirs verlassen möchte, hält sich am besten an diese ausgesuchten Adressen:
GALERIES LAFAYETTE – LE GOURMET
Das berühmteste, ikonischste aller Pariser Luxuskaufhäuser muss man gesehen haben; auch wenn man gar nichts kaufen möchte. Auch die Food-Abteilung ist wirklich beeindruckend – wer beim Bummeln hungrig wird, kann gleich in einem der zahlreichen Restaurants einkehren.
gourmet.galerieslafayette.com
LA GRANDE ÉPICERIE DE PARIS
Ein Feinkostladen, der dem schicken Kaufhaus Bon Marché angegliedert ist, dem ewigen Konkurrenten der Galeries Lafayette: zweifellos das Mekka der Pariser Feinschmecker und jedes Gourmets, der Produkte sucht, die sonst nirgendwo in Paris zu finden sind. Die Auswahl ist dementsprechend gigantisch, die Aufmachung luxuriös und das Flair einzigartig. Wer will, kann auch gleich im Geschäft essen oder sich ein paar Köstlichkeiten zum Mitnehmen einpacken lassen.
www.lagrandeepicerie.com
LIBRAIRIE GOURMANDE
Ja, eine Buchhandlung, aber eine ganz besondere. In der Librairie Gourmande dreht sich nämlich alles um die Themen Kochen, Essen und Trinken – und das Sortiment ist wirklich riesig, sogar mehrsprachig, und erstreckt sich über zwei Etagen.
www.librairiegourmande.fr
A. SIMON
Hier findet man wirklich alles, was es für Küche, Keller und Tisch braucht: von Staub- oder Le-Creuset-Brätern über edle Kupferpfannen bis hin zu Weingläsern, Karaffen, Besteck, Geschirr und allem, was der HobbyPatissier zu Hause benötigt.
Adresse: 48 Rue Montmartre, 75002 Paris
Unser Reiseredaktor Nicolas Bollinger interessiert sich stets für die kleinen feinen kulturellen Unterschiede, die einem beim Reisen auffallen.
Wie nähert man sich einer Stadt an, bei der Mythos und Realität längst nicht mehr voneinander zu trennen sind? Das «Problem» an Paris ist ja, dass es sich kaum vorurteilsfrei besuchen lässt, jede Besucherin und jeder Besucher reist bereits mit einem Bündel an Vorstellungen und Erwartungen an, die durch einen seit Ewigkeiten mit Texten, Filmen, Bildern, Fotografien, Liedern und Erzählungen aufgeladenen Diskurs gespeist wurden. Somit lauert das Klischee an jeder Ecke, und seit dem Erfolg der Netflix-Serie «Emily in Paris» ist es gefühlt noch schlimmer geworden. Wer das Paris von Emily sucht, wo Baskenmütze tragende, dauernd weintrinkende, kettenrauchende und Haute-Couturetragende Franzosen durch ein luxuriöses, weichgezeichnetes Disney-Paris stolzieren, in dem es nur um Croissants und l’amour toujours geht, muss sich auf eine harte Landung in der Realität gefasst machen. Das kann man natürlich belächeln, aber Vorsicht: Auch, wer sich der grossen intellektuellen Aura des Pariser Geisteslebens auf der Spur glaubt und deshalb das berühmte Café «Les Deux Magots» aufsucht, um den Geist der Bohème und berühmter Gäste wie Arthur Rimbaud, Oscar Wilde, Pablo Picasso, Albert Camus, Jean-Paul Sartre oder Ernest Hemingway zu atmen, findet dort leider keine rollkragenpullitragenden Existenzialisten, sondern trockene Croissants und schamlos überteuerten Kaffee.
Werfen Sie, sofern das möglich ist, Ihre Klischees mit gutem Gewissen in die Seine, lassen Sie die Stadt einfach auf sich wirken – und erleben Sie Ihr ganz eigenes Paris.
Kaffee und Croissants im legendären «Les Deux Magots»: Hier bezahlt man vor allem für die grossartige Vergangenheit, die Gegenwart ist deutlich ernüchternder.