Am Anfang war das Feuer. Auch beim Raclette. Nicolas Walker schreitet zur steinernen Feuerstelle, wo ein loderndes Feuer aus Lärchenholz einen unvergleichlich rauchig-aromatischen Duft verbreitet, greift einen halben Käselaib von einem hölzernen Brett direkt an der knisternden Glut und streicht mit seinem Messer eine Portion Raclette in einer fliessenden Bewegung auf den Teller. «Das ist wirklich etwas Besonderes», so Walker. Da ist es nun, das einzig wahre Raclette, das Ur-Raclette, so zubereitet, wie man es bereits zu einer Zeit tat, als es noch keine elektrischen Öfeli gab und dieses heutige Nationalgericht ausserhalb des Wallis kaum bekannt war. In der Tat etwas Besonderes. Der Käse wird durch die Nähe zum Feuer nicht nur zum Schmelzen gebracht, sondern auch geräuchert und gegrillt, was dem Walliser Raclette sein typisches, unverkennbares Aroma verleiht. Berge, Rauch, Feuer – hier auf der Tunetschalp auf knapp 2000 Metern über Meer mutet die Szenerie genauso archaisch an wie die traditionelle Art, Käse zu schmelzen. Hier hoch führt keine Bergbahn, sondern eine Bergstrasse, die sich, je höher man fährt, von einer Piste zu einem ausgetrampelten Pfad wandelt. Die alte Jagdhütte, ohne Strom und fliessend Wasser, befindet sich im Besitz der Familie Walker, einem der bedeutendsten Käsehersteller des Wallis. «Wenn wir hier sind, machen wir das Raclette immer auf diese Art», so Nicolas Walker. Hier oben findet Walker nicht nur Ruhe und Abgeschiedenheit, sondern auch die Grundlage dessen, was die Bergkäserei Walker so besonders macht. Auf Alpen wie diesen grasen vom Frühling bis in den Herbst die Kühe von 72 Bauernfamilien aus dem Aletschgebiet/Goms und dem Vald’Illiez, wobei die reichhaltige alpine Flora dem Käse im Endeffekt seinen einzigartig würzigen Geschmack verleiht. Mehr als fünf Mio. Liter frische Berg- und Alpenmilch liefern diese Bauernfamilien und Alpbetriebe pro Jahr, das entspricht je nach Saison zwischen 12 000 und 20 000 Liter Milch pro Tag. Die Milch wird täglich frisch bei den Bauern abgeholt, ins Tal gebracht und in der modern eingerichteten Käserei in Bitsch VS verarbeitet. Im Moment sei Milch leider eher Mangelware, denn aufgrund der sommerlichen Hitze und Trockenheit seien die Mengen kleiner, so Walker, «Unser Käse ist eben ein Naturprodukt, da ist das manchmal einfach so.» In einem «normalen» Jahr produziert man bei Walker gut 200 Tonnen Bergkäse, 50 Tonnen diverse Käsespezialitäten, 90 Tonnen Joghurt, 30 Tonnen Butter und 10 Tonnen Ziger. Aber derLöwenanteil liegt mit 250 Tonnen eindeutig beim Raclettekäse. Denn darauf hat sich das 1956 von Arnold Walker gegründete Familienunternehmen geradezu spezialisiert und hat in seiner Geschichte als erster Botschafter für Raclette in der Schweiz tatkräftig dazu beigetragen, die einst reine Walliser Spezialität als nationales kulinarisches Kulturgut zu etablieren. Mit Nicolas Walker ist seit 2018 die dritte Generation an Bord. Ein wichtiger Grundsatz bei Walker: Man hat die komplette Wertschöpfungskette selber im Griff, von der Milch bis zur Verpackung. Als wir an jenem Septembermorgen die Käserei in Bitsch besuchen, ist der riesige, 7500 Liter fassende Kupferkessel gut gefüllt, genug für 144 Laibe. Was aussieht wie ganz normale Milch, wird sehr bald zu Käse gepresst werden, denn die Milchsäurekulturen und das Lab, dieses unverzichtbare Enzymgemisch aus dem Kälbermagen, hat die Flüssigkeit bereits gerinnen lassen. Nicolas Walker wirft die mechanische Käseharfe an.
Bretteln, waschen, wenden: Die Pflege und Reifung der Laibe geschieht bei der Bergkäserei Walker in Handarbeit.
Die riesigen Messer setzen sich langsam in Bewegung und gleiten durch das Weiss, zuerst ohne eine Spur zu hinterlassen, doch dann beginnt auf fast magische Weise die Transformation, die Flüssigkeit wird zur Masse, langsam zeichnen sich sanfte Linien ab, Stücke werden sichtbar, weich und glänzend, der Käsebruch trennt sich von der Molke. Hat der Bruch die gewünschte Festigkeit erreicht, erhält der Käse unter mehrfachem Wenden seine Form, automatischer Presse sei Dank. «Bei der Produktion sind wir sehr effizient, aber bei der Reifung lassen wir uns Zeit», erklärt Walker stolz. Direkt im Anschluss werden die Laibe auf Rottannenbrettern gelagert, mit Salzlake gewaschen und regelmässig gewendet; das geschieht alles von Hand. «So sind wir einfach näher am Produkt», erklärt Nicolas Walker, «ausserdem würde ein Roboter gar nicht in den Keller passen». Worin besteht denn nun eigentlich der Unterschied zwischen einem «gewöhnlichen» Bergkäse und Raclettekäse? Eigentlich ist es ganz einfach: Im Vergleich zu gewöhnlichem Bergkäse hat Raclette einen höheren Wasseranteil – der perfekte Schmelz ergibt sich letztlich aus einem präzise ausbalancierten Dreiklang von Fett, Protein und Wasser. Fast vier Monate lang reifen die Laibe nun bei neun bis zwölf Grad Celsius und einer Luftfeuchtigkeit von 96 Prozent. Man könnte sie bestimmt noch einen oder zwei Monate länger im Keller lassen, wodurch sie stark an Würze und Intensität zunehmen würden; aber auf keinen Fall länger: Denn dann würde der Käse zu viel Wasser verlieren, die Balance würde nicht mehr stimmen und er würde beim Schmelzen ausfetten.
Zwei Arten von Raclettekäse stellt man bei Walker vor Ort her: den würzigen «Aletsch Raclette» aus thermisierter Milch (eine Zwischenstufe zwischen roh und pasteurisiert: auf 57–68 Grad erhitzt, behält die geschmacklichen Eigenschaften eines Rohmilchkäses, aber ist bekömmlicher) sowie den «Raclette du Valais AOP» Gomser aus Rohmilch, wo ein Pflichtenheft jeden Herstellungsschritt akribisch genau regelt. Und worin unterscheiden sie sich geschmacklich? Bei der Degustation auf der Tunetschalp wird sofort klar: Die Zubereitung am offenen Feuer sorgt tatsächlich für eine dezente Rauchnote und eine Kruste, welche man in einem gewöhnlichen «Pfännli» schlicht nicht hinbekommt! Der «Aletsch» schmilzt cremig-zart und weich und schmeckt wunderbar würzig – der «Gomser» setzt da jedoch noch einen drauf: noch mehr Würze, Vollmundigkeit und Intensität, aber auch schwerer und mächtiger, was ganz klar an der Rohmilch liegt. Wofür man sich letzten Endes entscheidet, ist eine Frage der persönlichen Vorliebe – fest steht jedoch: Das ist wahres «Terroir», der ureigene Geschmack des Wallis.