Sie gehören zu den schönsten Erinnerungen meiner Kindheit: die Momente, in denen ich mit meiner Mutter Mailänderli ausstechen durfte. Natürlich haben meine Schwester und ich die Förmchen so auf den Teig gelegt, dass ringsherum möglichst viel Teig übrigblieb, den wir naschen konnten. Ich stach besonders viele Esel aus, weil das Eselförmchen flächenmässig alle anderen Förmchen übertrumpfte. Und um den Grosseltern und Paten sagen zu können: «Dieser Esel ist dann im Fall von mir», was mir leider nicht das Recht gab, sie alle allein aufzuessen. Guetzle hat sehr viel mit Tradition und Kultur zu tun. So haben viele Familien ihre eigenen, über Generationen weitergegebenen Guetzlirezepte. Doch nicht nur Zutaten wurden seit Generationen überliefert, sondern auch Tipps und Tricks rund um die Guetzliherstellung. So schwört meine Grossmutter darauf, dass Totenbeinli nur dann richtig gut werden, wenn man sie am Schluss des Backens noch auf die Seite legt und so nochmals etwas nachbäckt. Keine Frage, dass wir, ihre Töchter und Enkelkinder, genau gleich backen.
Der Brauch des Backens in der Zeit vor Weihnachten geht übrigens auf die vorchristliche Zeit zurück. Besonders Leb-, Honig- und Pfefferkuchen haben eine lange Tradition. Man legte Honiggebäck aufs Fensterbrett, um die Dämonen der Winternächte zu beschwichtigen. Gegessen wurde das Naschwerk dann allerdings von Kindern und Hausierern. Es war kaum oder nur mit Honig gesüsst, denn Zucker gab es damals noch nicht zu erschwinglichen Preisen. Erst in der Biedermeierzeit finden sich europaweit erste Rezepte wie Vanillekipferl oder Florentiner. Dies war dem preussischen Chemiker Sigismund Markgraf zu verdanken, der 1747 herausfand, dass man Zucker nicht nur aus Zuckerrohr, sondern auch aus der gewöhnlichen Runkelrübe gewinnen kann, was den Zuckerpreis erheblich senkte. Übergewichtig wurde man von den Guetzli und anderen Schlemmereien während der Weihnachtszeit damals nicht. Es wurde ja nur dann gebacken, wenn von der Kirche her eine «Cuisine riche», also reiche Küche, mit Butter, Eiern und Zucker erlaubt war. Diese wurde dann wieder von der «Cuisine pauvre» abgelöst, der Armenküche oder der Fastenzeit, zum Beispiel nach Fasnacht bis Ostern.
Und heute? Weltweit finden Fertigteige und fertig gebackene Weihnachtsguetzli immer stärkeren Absatz. Und doch backen viele Familien in der Vorweihnachtszeit die Guetzli nach wie vor selber. Die Suche nach den eigenen Wurzeln und Traditionen ist präsenter denn je. Schliesslich gibt das ganze Wissen rund um unsere Kultur Geborgenheit und Halt. Tätigkeiten wie das Guetzlen ab dem 1. Advent helfen zudem, sich im Jahreslauf zurechtzufinden. Kinder lernen dabei die richtigen Handgriffe kennen und verbessern ihre motorischen Fähigkeiten. Die gemeinsame Beschäftigung lässt zudem die Bindung der Eltern (Papi darf und soll auch guetzle!) zu den Kindern wachsen und unterstützt das soziale Lernen. Mittlerweile habe ich längst kein Eselförmchen mehr. Aber ich stelle jeweils die dreifache Menge Teig her. Ich weiss genau, dass meine eigenen Kinder die Mailänderli nach demselben Prinzip ausstechen wie ich damals. Weil so viel Teig in den Mund wandert, verwende ich topfrische Eier. Notabene tun die Kinder ja noch etwas Gutes. Denn jedes erneute Zusammenkneten und Bemehlen des Teigs schmälert den Geschmack der aus den Teigresten hergestellten Guetzli. Also essen sie die Teigresten auch in meinem Interesse besser selbst.